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Selbsthilfe ist kein Allheilmittel

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Arbeitslosigkeit und Verarmung stehen auch bei uns auf der Tagesordnung. Immer mehr Personen sind auf Sozialhilfe und Notstandsgeld angewiesen -auch bei uns in Österreich.

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Arbeitslosigkeit und Verarmung stehen auch bei uns auf der Tagesordnung. Immer mehr Personen sind auf Sozialhilfe und Notstandsgeld angewiesen -auch bei uns in Österreich.

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Die Zahl der Sozialhilfeempfänger weist stark steigende Zuwachsraten auf. In Wien beispielsweise jährlich um 40 Prozent. Aber auch die durchschnittliche Bezugsdauer wird länger.

Verarmung kündigt sich aber auch im rapiden Ansteigen von Miet- und Heizungskostenrückständen an. So wurde beispielsweise in der Wiener Großfeldsiedlung von 7.500 Wohnungen bereits mehr als 300 die Heizung abgedreht!

Paradoxerweise stellt sich aber gerade jetzt die Aufgabe, den Staatshaushalt zu entlasten, das Budget zu sanieren, und man sucht daher nach Einsparungen im Sozialbereich, führt keine Anpassungen des sozialpolitischen Instrumentariums an neue gesellschaftliche Problemstellungen durch und gewährt Sozialhilfen restriktiver.

Viele Anzeichen dieses schleichenden Sozialabbaues sind unauffällig. Wenn man aber immer von den „Zeichen der Zeit" redet, gilt es diese Anzeichen eines gesellschaftlichen Witterungsumschlages sehr genau zu beobachten. So, wenn in Wien die Kindergartenbeiträge in den letzten vier Jahren um 50 Prozent angehoben wurden und bereits wöchentlich mehr als 400 Schilling ausmachen.

Am deutlichsten artikulierte sich der Trend, Einsparungen im Sozialbereich mit der Zurückverlagerung gesellschaftlicher Aufgaben und Pflichten in den privaten Bereich zu koppeln, während der letzten Sozialreferentenkonferenz der Länder, in der bezeichnenderweise unter dem Titel „Einsparungsmöglichkeiten in der Sozial- und Behindertenhilfe" Angehörige in Selbsthilfegruppen die Bevölkerung zu einer intensiveren freiwilligen Mitarbeit eingeladen werden sollten ...!

Gleichzeitig wurde betont, daß angesichts der derzeitigen Arbeitsmarktsituation der sozialpolitische Grundsatz durchgreifen müsse, daß bei Arbeitsunwillig-keit die Leistungen der Sozialhilfe bis zum gänzlichen Entfall einzuschränken seien.

Hier besteht nun die Gefahr, daß unter dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe" gesellschaftliche Aufgaben in den privaten Bereich zurückverlagert werden, die sozialen Risiken gleichsam zu reprivatisieren, das heißt, es im Grund den einzelnen Betroffenen zu überlassen, mit diesen existenzbedrohenden Problemen fertig zu werden.

Nicht selten—so vor allem in der BRD — beruft man sich bei diesen Bestrebungen auf das „Subsidia-ritätsprinzip" der Katholischen Soziallehre, wie es 1931 im päpstlichen Rundschreiben „Quadrage-simo anno" wie folgt formuliert wurde:

„Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seiner eigenen Kraft leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Einheiten des Gemeinwesens leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen.. . Jedwede Geseilschaf tstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär, sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen."

Mit Berufung auf dieses Prinzip werden nun staatliche Eingriffe, wie Förderungsmaßnahmen kritisiert und Einsparungen notwendiger Sozialausgaben gerechtfertigt. Schlicht übersehen wird dabei die erste Hälfte dieses Prinzips: daß nämlich jede Gesellschaftstätigkeit die kleineren Einheiten zu unterstützen hat, eine Verpflichtung, die zum Subsi-didaritätsprinzip als selbstverständlich vorausgesetzt wird.

Gegen eine solche halbierte Soziallehre muß mit Entschiedenheit auf die Verpflichtung der Gesellschaft zu entsprechender Hilfeleistung hingewiesen werden. Dabei ist die ausschließliche Rede von Hilfeleistungen im Grunde irreführend: statt um zugestandene Hilfe in ausgesprochenen Notfällen geht es nämlich weithin um Ermöglichung und bewußte Förderung von Eigeninitiativen — in nüchterner Anerkennung der von ihnen erbrachten gesellschaftlichen Leistungen.

So darf nicht übersehen werden, daß die von solchen Initiativen oft unter äußerst schwierigen Bedingungen wahrgenommenen Tätigkeiten Aufgaben von öffentlichem Interesse darstellen: sei dies Umschulung, Weiterbildung, Integration von sozial Benachteiligten, letztendlich die Bereitstellung von Arbeitsplätzen.

Eine positive Erwähnung verdienen in diesem Zusammenhang die Förderungen, wie sie seit 1983 durch die Arbeitsmarktverwaltung des Bundes möglich geworden sind. Diese können jedoch nur ein erster Schritt sein. Gerade auf

Landes- und Gemeindeebene geschieht derzeit so gut wie gar nichts.

Von kirchlicher Seite seien positiv angeführt: die Förderung zum Beispiel des Projekts „Schuhwerkstatt Schrems" durch die Diözese St. Pölten oder das Projekt „Mark" durch die Diözese Salzburg. Auch hier wäre ein weiteres Engagement wünschenswert.

Denn wirksame Unterstützung ist dabei nicht nur aus arbeits-markt- und sozialpolitischen Gründen angebracht. Der Großteil der in den Initiativen Engagierten versucht nämlich auch neue solidarische, demokratische Lebens- und Arbeitsformen zu entwickeln. Damit aber leisten sie einen Beitrag zur demokratischen Entwicklung unserer Gesellschaft, der die öffentliche Anerkennung verdient.

Es existieren mehr Initiativen als allgemein bekannt ist, mehr als daß man sie vernachlässigen dürfte; doch viel zu wenige, als daß sie grundlegendere Maßnahmen überflüssig machten! Was also ist realistisch von Selbsthilfeinitiativen zu erwarten? Selbsthilfeinitiativen im sozialen und wirtschaftlichen Bereich sind sicher eine konkrete Hilfe für — derzeit ein paar hundert — Betroffene, eine Minderheit angesichts -zigtausender von Arbeitslosigkeit, Sozialabbau und Verarmung betroffener Menschen in Österreich.

Die Initiierung und Gründung von Selbsthilfegruppen, so wichtig sie vor allem für die darin Engagierten sind, können aber keine allgemeine Vorgangsweise gegen die wirtschaftlichen Krisenphänomene sein. Dafür sind, um dies hier in aller Klarheit festzustellen, strukturelle Maßnahmen unverzichtbar, wirtschafts- und gesellschaftspolitische Weichenstellungen wie zum Beispiel auch die Verkürzung der Wochenarbeitszeit.

Aber zweifelsohne tragen Selbsthilfeinitiativen zur Minderung der sozialen, vor allem aber der psychischen^ individuellen Probleme, die bei lang andauernder Arbeitslosigkeit auftreten, bei. Denn trotz relativ geringer Arbeitslosigkeit in Österreich wartet ein Arbeitsloser im Durchschnitt bereits fünf Monate auf einen neuen Arbeitsplatz.

Selbsthilfe steht also auch für die Chance, aus der Apathie und Passivität eines scheinbar individuellen Schicksals auszubrechen, sich mit anderen zusammenzuschließen, kann also Impuls zur Solidarisierung werden und oft auch neue, solidarische Lebensund Arbeitsformen erfahrbar machen.

Auszug eines Referates, das der Autor, Leiter der Katholischen Sozialakademie Österreichs, beim KSÖ-Studientag am 6. Oktober 1984 zum Thema „Hilfe zur Selbsthilfe - Re-privatisierung sozialer Risiken oder Impulse zur Solidarisierung" gehalten hat.

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