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Selbstmord durch Erbanlage?

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Seine Studie zum Thema „Beziehung des Wahns zum Selbstmordversuch und Selbstmord" trug jüngst dem Neurologen und Psychiater Bernhard Mitterauer den Jahrespreis der Salzburger Ärztegesellschaft ein. Ausgezeichnet wurde damit eine Arbeit, die über medizinische Fachkreise hinaus interessant erscheint und zusammen mit weiteren Veröffentlichungen des Autors über den Suizid auch für Laien praktisch anwendbare Verhaltensratschläge gegenüber Selbstmorgefährde-ten bereithält.

Den Anstoß zur Auseinandersetzung mit dieser Problematik erfuhr Mitter-

„Die willentliche Vorwegnahme des natürlichen Todes entspringt kaum jemals einer Kurzschlußhandlung."

auer durch die tägliche Begegnung mit Patienten, die er als Arzt auf einer psychiatrischen Beobachtungsstation sowie als Leiter der Salzburger Krisenintervention und als Psychoanalytiker zu betreuen hat. Das Material seiner Untersuchungen bezog er aus den Krankheitsblättern sämtlicher Suizid-Fälle auf der Salzburger Landesnervenklinik während des letzten Jahrzehntes.

Zusätzlich untersuchte er die 129 amtlich registrierten Selbstmorde des Jahres 1978 im Lande Salzburg, wobei er alle Einzelheiten über den Lebens-

lauf, die familiäre und berufliche Situation, die körperliche wie die seelische Entwicklung der freiwillig in den Tod Gegangenen zu ermitteln bestrebt war.

Vorausgeschickt muß werden, daß hier grundsätzlich zwischen Selbstmord und Selbstmordversuch unterschieden wird. Demnach ist der Selbstmordversuch im allgemeinen nicht eine mißglückte beziehungsweise verhinderte Selbsttötung, sondern zielt entsprechend ihrer Motivation und Ausführung statt auf tatsächliche Selbstvernichtung auf „Rettung" und damit letztlich auf verstärkte Zuwendung der Umwelt.

Der Selbstmord hingegen ist auf eine gänzliche Abwendung von der mitmenschlichen Umgebung ausgerichtet. Laut Bernhard Mitterauer wird er „in völliger geistiger Urteilskraft" als die jeweils sinnvollste Problemlösung erkannt und läuft dann „wie der Countdown einer Rakete" konsequent ab -ohne die beim typischen Selbstmordversuch (bewußt oder unterbewußt) miteinkalkulierte lebensrettende „Panne".

Aus genauer Analyse des vorliegenden Forschungsmaterials gelangt der Autor zur Uberzeugung, daß die willentliche Vorwegnahme des natürlichen Todes kaum jemals einer Kurzschluß-

handlung entspringt, sondern sich dem Betroffenen in seiner individuellen Realität als Ergebnis logischen Abwägens darstellt und zumindest während der letzten Stunden sogar in „gesteigerter Bewußtheit" erfolgt. Diese These zieht er aus den Details über die näheren Umstände der von ihm untersuchten

Selbstmordfälle, wobei er an unter Schizophrenie oder sonstigen Formen geistiger Störungen leidenden Patienten regelrecht ein Aussetzen der Wahnzustände rekonstruierte.

Biologisch zwar noch nicht gesichert, statistisch jedoch bereits weitgehend belegt erscheint eine weitere Erkenntnis. Die Tatsache nämlich, daß Mitterauer in der Familienvorgeschichte zumindest jedes zweiten Selbstmörders auf einen oder mehrere durch Freitod gestorbene Blutsverwandte stieß, läßt in „eine Art suizidalen Erbfaktors" vermuten - eine Veranlagung, die im genetischen Code mitgeliefert wird und durch besondere „Programmauslöser" wie etwa Krankheit, Unfall, Schock Alkohol bzw. Drogen oder Ausweglosigkeitserlebnisse zum Durchbruch kommt. Dieser Einschalt-Prozeß geht offenbar meist mit hirnorganischen Veränderungen einher, was die Salzburger Studie schlagkräftig untermauert.

Ganz allgemein konstatiert Mitterauer in einem Gespräch mit der FURCHE kein Ansteigen der Selbstmorde in unserem Lande, wohl aber eine sprunghafte Zunahme der Selbstmordversuche. Das Verhältnis von Selbstmorden zu Selbstmordversuchen beträgt (ohne Berücksichtigung der hohen Dunkelziffer von nicht registrierten

Selbstmordversuchen) I : 20. Kinder und Jugendliche, Frauen und Menschen mit Kontakt- bzw. Ehekrisen im mittleren Lebensalter neigen eher zum zuwendungsorientierten Selbstmordversuch, Männer hingegen und Personen über 60 Jahren zur Selbsttötung.

Bestimmte Tageszeiten oder Großwetterlagen fuhren angeblich nicht zu einer markanten Häufung von Selbstmorden, wohl aber Feste des Jahresablaufes und außergewöhnliche Witterungsverhältnisse wie Föhn und Gewitter. Gesellschaftliche Herkunft und Bildungsstand scheinen hierzulande kaum ausschlaggebend zu sein, freilich ist die Anfälligkeit zum Freitod als Problemlösung stets auch von religiösen Bindungen mitbestimmt.

Mitterauer wäre nicht Arzt, wollte er seine wissenschaftlichen Erhebungen nicht praktisch genutzt wissen. Jede Selbstmorddrohung müsse ernstgenommen werden. Bei Menschen mit spürbaren Persönlichkeitsveränderungen nach Schockeinwirkungen jeglicher Art sei besondere Aufmerksamkeit geboten - gerade übrigens dann, wenn

„Freilich ist die Anfälligkeit zum Freitod als Problemlösung stets auch von religiösen Bindungen mitbestimmt."

sich eine schlagartige Besserung kundtut: oft setze just in solchen Augenblik-ken der wahnfreie „Selbsmord-Count-down" ein.

Da hirnorganische Vorgänge nach Mitterauers Erfahrung beim Selbst-mordverhalten stets mit im Spiele sind, verspricht vorbeugende Behandlung nur im Zusammenwirken von psychotherapeutischer und medizinisch-biologischer Hilfe nachhaltigen Erfolg. Medikamentöse Unterstützung einer seelischen Behandlung eröffnet häufig erst die Möglichkeit, dem Kranken einen Weg aus seiner vermeintlich hoffnungslosen Lage aufzuzeigen.

Dieses Nebeneinander und Ineinander der Psychotherapie und der Chemotherapie bereitet den Bestebungen zur umfassenden Selbstmordprophylaxe in Osterreich eine neue Basis: in einem Lande, das nach Schweden und Ungarn den wenig ehrenvollen dritten Platz auf der Weltrangliste der Selbstmordstatistiken hält.

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