6845283-1976_16_14.jpg
Digital In Arbeit

Seltsame Hommage

Werbung
Werbung
Werbung

Für gewöhnlich ist es so: Wenn ein Berühmter sechzig, siebzig oder achtzig geworden ist, kommt in Buchform eine Sammlung von Ovationen für den Jubilar heraus, und jede einzelne lobt ihn über den grünen Klee. Selbst Konkurrenten oder Zugehörige eines anderen geistigen Lagers senken gleichsam den Degen und leisten hochachtungsvoll Reverenz. Das Ergebnis mag aufschlußreich sein, oft genug ist es auch ein wenig peinlich, wie mit einem pieksüßen Zuk-kerüberguß glasiert mit mancherlei Superlativen. Das war einmal so auch bei Rainer Maria Rilke.

Doch nichts davon in dem Bändchen „Rilke?“ der „edition text + kritik“ in München (153 Seiten, S 96.30). Schon der Titel stellt vom Anfang an den in Frage, dem diese „kleine hommage zum 100. Geburtstag“ dienen soll, jeder Aufsatz beginnt eher mit einer Distanzierung und findet erst dann zum Lob, die Kritiker müssen sich sozusagen erst einmal beim Zeitgeist entschuldigen, bevor sie es wagen dürfen, das Positive zu sagen.

Es kommen in diesem vielsagenden Band, begreiflicherweise, nur Literaten und Literaturkritiker zu Wort, und sie gestehen dem Hundertjährigen eine Art „Rilke-Renaissance“ zu. Es gibt aber keine, sie ist gar nicht nötig, denn die Leser haben ihn nie verlassen.

„rilke wird um sein — gewicht erleichtert — so rauh erzieht — die erde ihren söhn“ beendet „ernst jandl“ seine nteilige Überlegung in Versen, „der gewöhnliche rilke“. Das Attribut ist bemerkenswert: Der infolge Gewohnheit nur noch „gewöhnliche“ wird apostrophiert, nicht der einst als ungewöhnlich empfundene Dichter. Und Friederike May-töcker deponiert in ihrer 14teiligen „Erinnerung an Rilke“ als Punkt 12: „mit 15 lese ich heimlich den Himmlischen unter der Schulbank während des englischen Phonetikunterrichtes; mit 50 ist er mir ferne gerückt“. Der eher ihr als ihm nahestehende Expressionist Ernst Blaß war schon mit 23 soweit, wenn er 1913 schreibt: „Wenn ich einen Vergleich ziehen soll: Elke Lasker-Schüler ist eine Zungenartistin. Rilke ein Bauchredner.“

Man hat ihm also seit jeher alles Gute und Ungute nachgesagt, und das besagt: Er war nicht zu überschweigen, und er muß noch heute beredet werden, so oder so. Die vorliegende Dokumentation dokumentiert es im wahrsten Sinne des Wortes, sie ist großartig montiert, großartig bis in die kleinlichsten Einwände, die immer wieder laut, das heißt gedruckt worden sind und für die das Gros der Rilke-Leser taub blieb. In ihrer zeitgemäß unterkühlten Betrachtung „Zur Rilke-Rezeption, im Jahre 1975“ gibt Hilde Domin zu, auch Neuausgaben von Gedichten Rilkes hätten „eine Auflage, die im gleichen Zeitraum kaum einer der Nachkriegslyriker erreicht haben dürfte.“ Unter Rezeption ist in diesen Beiträgen, wie gewöhnlich, die Sekundärliteratur gemeint und nicht die Aufnahme beim Leser.

Selbstverständlich ist Rilke wie jeder vielgelesene Autor vielfach mißverstanden worden. Daß Verständnis wie Mißverständnis so breit ausgefallen sind, kann nur an der künstlerischen Qualität des Werkes liegen, die beinahe jeden unwiderstehlich anspricht, auch wenn es manchem aus irgendeinem Grunde widersteht: Er habe, zumal in der Jugend, auch schlechte Verse gemacht, er habe sich fälschlich adelige Herkunft zugeschrieben, am liebsten in Schlössern und mit Aristokraten verkehrt, sich unpolitisch gegeben und sei politisch reaktionär gewesen, und auch die üblen „Rilke-Weiber“ (Thomas Mann) und deren „Rilke-hysterie“ (Domin) werden ihm angelastet. Wer ihn lobt, entschuldigt sich damit, zunächst auch gegen ihn gewesen zu sein. Nur Peter W. Jansen sieht in „Rilkes Roman“ das unglaublich Avantgardistische, und Karl Krolow sagt rückhaltlos voraus: „Die Zeit der anderen Auslegung wird anbrechen.“ Die einfachen Leser werden dann einfach recht behalten haben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung