„Meine traurige, fröhliche Stadt“ nannte Marc Chagall die weißrussische Gemeinde Wi- tebsk, in der er vor hundert Jahren als erstes von neun Kindern einer jüdischen Familie geboren wurde. Eben dieses Geboren- Werden, die Liebe zwischen Mann und Frau, das einfache bäuerliche Leben im Dorf, die schlichte Frömmigkeit verankerten sich tief in seiner Seele, sodaß Chagall sein Leben lang in seinen Motiven, in seiner inneren Gestimmt- heit aus ihnen schöpfen konnte. Immer wieder stellte er Rabbiner, jüdische Metzger, Zeitungsverkäufer, Viehhändler, Mägde und unzählige Haustiere dar.
Marc Chagalls Eltern - der Vater arbeitete im Lager eines Heringshändlers, die Mutter führte einen Kramladen — waren Chassi- dim: Anhänger eines mystischen, doch zugleich auch besonders fröhlichen, lebensbejahenden Judentums. Es war auch die ah- nungs- und liebevolle Mutter, die ihn vermutlich gegen viele äußere Widerstände als Neunzehnjährigen zu einem Maler in die Lehre gab.
Und es war wieder eine Frau, nämlich seine Verlobte Bella Rosenfeld, seine spätere Ehefrau, die ihn wohl zu seinen schönsten, innigsten und auch berühmtesten Bildern anregte. Das Gemälde mit dem Titel „Der Geburtstag“, das er 1915 - im Hochzeitsj ahr - malte, zeigt das in seinem Glück schwebende Liebespaar, ein Vom-Erd- boden-Abgehobensein, das so typisch für Chagalls Formensprache ist.
Im Jahre 1910 war Marc Chagall mit einem winzigen Stipendium nach Paris gegangen, wo er bald in den Kreis des berühmten Avantgarde-Literaten Guillaume Apollinaire gelangte. Dieser vermittelte ihn an den Herausgeber der Literatur- und Kunstzeitschrift „Der Sturm“, an Herwarth Waiden. Bei ihm in Berlin hatte Chagall seine erste Einzelausstellung mit 40 Gemälden und rund 150 kleineren Arbeiten auf Papier. Wenngleich die Ausstellung für Chagall ein finanzieller Reinfall war, so begründete sie doch seine spätere Berühmtheit.
Wieder in Rußland, heiratete Marc Chagall seine Verlobte Bella, kehrte jedoch bald wieder gemeinsam mit ihr nach Paris zurück. In Hunderten von Bildern und Zeichnungen porträtierte er seine schöne Frau als Braut, als Geliebte, als Akt, als Engel oder als Erscheinung. Jahre nach ihrem frühen Tod heiratete er ein zweites Mal. Auch seiner zweiten Frau, mit der er bis zu seinem Tod teils in Vence bei Nizza, teils in Israel lebte, widmete er viele Bilder.
Chagalls künstlerische Arbeiten prägten vor allem seine überreiche Phantasie und seine leidenschaftliche Liebe; und dies ist wohl auch das Geheimnis ihrer tiefen Wirkung auf ihre Betrachter. „Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete, hätte aber die Liebe nicht, so war ich nur ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle…“
Stilistisch schaffte es Chagall, die im Frankreich des frühen zwanzigsten Jahrhunderts aufkommenden kubistischen Tendenzen in seine poetische Malerei einfließen zu lassen, ohne dabei dogmatisch zu werden. Im Tafelbild wie im großen Bühnenbild oder auch in den unzähligen Pastellen herrscht das narrative Element gepaart mit einem Stim- mungskolorismus vor. Das Unbe-
stimmte des Raumes, das Atmosphärische, die Aufhebung der Schwerkraft und aller perspektivischen Gesetze beschwören Transzendenz, die durch das Leuchten der Farben von innen heraus verstärkt wird.
Gerade in der Darstellung des Hoheliedes, in dem er die Liebenden durch den Äther in den Himmel emporschweben läßt, fand er ein Sujet, das ihm vollkommen entsprach. Aber auch Bühnenbilder zu „Aleko“, „Der Feuervogel“, „Daphnis und Chloe“ und schließlich zur „Zauberflöte“ geben etwas vom Wesen dieses großen Künstlers wieder.
Ein Besuch im Chagall-Museum von Nizza könnte die heilende Wirkung einer Pilgerfahrt haben.