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Sex als neuer Zynismus

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Vom Verlust der Erotik zu sprechen, scheint in einem Zeitalter, in dem Sex groß geschrieben wird, und man dabei ist, die letzten Tabus des Geschlechtslebens zu durchbrechen, paradox. Aber gerade ein Eingehen auf die lauthals verkündete sexuelle Befreiung und ihre Manifestationen in ursprünglich künstlerischen Medien wie dem Theater muß uns zur Skepsis zwingen. Diese Manifestationen sind im Grunde Ausdruck menschlicher Liebesunfähigkeit, Flucht in den bloßen Genuß um des Genusses willen.

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Vom Verlust der Erotik zu sprechen, scheint in einem Zeitalter, in dem Sex groß geschrieben wird, und man dabei ist, die letzten Tabus des Geschlechtslebens zu durchbrechen, paradox. Aber gerade ein Eingehen auf die lauthals verkündete sexuelle Befreiung und ihre Manifestationen in ursprünglich künstlerischen Medien wie dem Theater muß uns zur Skepsis zwingen. Diese Manifestationen sind im Grunde Ausdruck menschlicher Liebesunfähigkeit, Flucht in den bloßen Genuß um des Genusses willen.

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Gerade im Wort Liebe ist aber jene Einheit von physischer und psychischer Leidenschaft und Zuneigung enthalten, die zur Erhaltung des Lebens notwendig ist. Ihre Aufteilung in Sex, Eros und Agape ist heute allgemein gebräuchlich. Diese mag für Psychologen interessant und vielleicht fruchtbar sein, für den Menschen als solchen, aber ebenso für seine künstlerische Manifestation ist sie von Übel. Je mehr wir den Sex emanzipieren, um so weniger wissen wir mit der Liebe anzufangen, am wenigsten mit der Agape, der fürsorglichen Nächstenliebe. Aber ebenso falsch war der offizielle Standpunkt des bürgerlichen 19. Jahrhunderts, das unter Liebe nur Agape Verstehen wollte und den Sex als häßlich und sündhaft ausschaltete. Das Ergebnis war eine verlogene oder intolerante Gesellschaft, die nur eine scheinheilige Garten-laubentounst anerkannte, während sie wirkliche Kunst als außenseiterisch,, wenn nicht überhaupt als unsittlich ablehnte. Und warum? Weil der wirkliche Künstler ohne Liebe im umfassenden Sinn nicht existieren, nicht schaffen konnte. ,

Man mag nun, wie viele Phänomene unserer Gegenwart, auch die Sexwelle als Pendelschlag, als Reaktion auf diese Zeit der Prüderie auffassen, und das mag zum Teil stimmen. Aber nur zum Teil. Die Geschichte der Menschen besteht nämlich nicht nur aus Pendelschlägen, nicht nur aus berechenbaren Aktionen und Reaktionen.

Beide Male, in der bürgerlichen Verleugnung und in der antibürgerlichen Bejahung 'des Sexus, wurde die Mitte, der Eros, übersehen. Die

einen identifizierten ihn mit sexueller Leidenschaft, was noch heute beim landläufigen Gebrauch des Wortes Erotik häufig geschieht, die andern, die Heutigen, die allzu Heutigen halten ihn für eine romantische oder gar mythologische Variante des LiebesgefüMs, die im Zeitalter der aweiten Aufklärung keinen Platz hat.

Gewiß, auch die Entdecker der Tiefenpsychologie sprachen im wesentlichen nur vom Sexuellen, nicht vom Erotischen. Aber das war die Sprache von Medizinern und Psychologen, die von Dichtern oder Stücke-schreibern übernommen, einen falschen Klang erhält. Die Identifikation des Künstlers mit dem Wissenschaftler hat diesen noch immer zum Dilettanten gemacht.

Aber worin besteht nun dieser geheimnisvolle Eros, diese Mitte zwischen Agape und Sex, ohne die, wie behauptet wird, mit Recht behauptet wird, Kunst, und besonders das Theater nicht existieren kann? Im Sinne der griechischen Philosophie, und da der Begriff von ihr geschaffen wurde, müssen wir auf sie zurückgreifen. Im Sinne der griechischen Philosophie ist Eros die schöpferische Macht, die immer unerfüllt bleibt. Für Piaton sind die Kräfte des Eros die lebenserhaltende Kraft für Religion und Kunst, und seinen Phaidros läßt er sagen, daß aus dem Chaos als erster Eros entstehen mußte, damit die Götter sich gestalten können. Das mag für viele heute sehr idealistisch, sehr mythisch klingen, aber im Grunde sagt es nichts anderes aus, als daß alle schöpferische Kraft des Menschen aus dem

Liebesbedürfnis stammt, ohne das er nicht nur im sexuellen, sondern auch im geistigen Sinn unfruchtbar, impotent wäre; ohne das er — im weiteren Sinn — auch zur Agape, zur Nächstenliebe, nicht fähig wäre.

Das Theater, um nun auf unser eigentliches Thema zu kommen, war zu allen Zeiten erotisch,. auch dort, wo Aristoteles von der kathartischen, der reinigenden Wirkung auf den Zuschauer spricht. Auch diese Katharsis, diese Reinigung, kommt nur durch die Darstellung der Leidenschaften auf der Bühne zustande. Der Schauspieler gibt sich dem Publikum hin. Ohne eine erotische Beziehung zwischen Zuschauer und Darsteller wird das Theater langweilig, überfällig. Diese erotische Wirkung kann auf primitive Weise durch derbdrastische Mittel erzeugt werden, aber ebenso durch die Leidenschaft der dargestellten Charaktere, Handlungen, ja selbst der Sprache. Der Reiz, der vom Bühnengeschehen ausgeht, bleibt aber letzten Endes unibefriedigt. Der Zuschauer wird nicht beruhigt, sondern erregt, herausgefordert, sei es zu leidenschaftlicher Anteilnahme oder zum leidenschaftlichen Nachdenken. Das Geheimnis des Eros ist seine Unerfülltheit Wo die Rechnung aufgeht, wo statt Leidenschaften oder Gedanken zu wecken, belehrt wird, hört die unmittelbare Wirkung auf das Publikum auf, kann das Theater durch Schule, Predigt oder Parteiversammlung ersetzt werden.

Partner sind austauschbar

Das Unerfüllte, das Streben über unsere Kraft, will das Theater von heute, als Kind des wissenschaftlichen Zeitalters, nicht wahrhaben. Die materialistische Lebensanschauung, über deren Vorherrschaft in der westlichen Welt wir uns trotz der oft gehörten Phrasen von christlicher Moral und abendländischer Kultur, nicht hinwegtäuschen dürfen, glaubt nicht mehr am die Kraft des Eros. Sie anerkennt ihn höchstens noch als Lustbringer für den einzelnen, aber zumeist einer Lust, die rauschartig darüber hinwegtäuschen soll, das alles sinnlos ist. Die Erotik des absurden Theaters der Ionescos und Genets ist nur noch ein Tanz auf dem Vulkan, eine Flucht des Menschen vor der Verzweiflung. Und in den Stücken Pinters oder Bonds, aber ebenso und fast noch krasser unserer heimischen Autoren, vor allem. Wolf gang Bauers, ist sie gänzlich sexualisiert, die Partner sind austauschbar, der Geschlechtsakt banalisiert, nicht bedeutender als das Trinken eines Glases Whisky oder ein Kinobesuch. Das soll nun durchaus kein Verdammungsurteil gegen die Stücke der genannten oder ungenannten Autoren sein, die damit nur die Zeichen ihrer Zeit theatralisch umsetzen, wie überhaupt jeder Vorwurf gegen das moderne

Theater als unimoralisch oder un-künstlerisch ungerecht wäre.

Das Theater ist nämlich immer ein Spiegel seiner Zeit. Und wer gegen das Theater wettert, müßte zu allererst gegen die Zeit und damit gegen sich selbst als einen Mitproduzenten dieser Zeit zu Felde ziehen.

Diese Stücke zeigen nur in erschrek-kender Form, die zum Teil auch von den Autoren als erschreckend gemeint ist, wohin uns der Leibensma-terialismus geführt hat: zu einer totalen Resignation, die das Ende jeder Erotik, jeder schöpferischen Kraft bedeutet; zur Kapitulation der Kunst von der Wissenschaft oder besser von einem Glauben an die Wissenschaft, der so rechthaberisch wie jeder fanatische Glaube alle Zweifel als Irrlehren ausschließt. Wer glaubt, diese Stücke wären Marksteine einer antibürgerlichen Revolution, einer sexuellen Befreiung, ist auf dem Holzweg, bereitet doch die banalisierte und trivialisierte Darstellung von Liebe gerade — wie es sich bei einem Großteil des Publikums bereits zeigt — einer neuen Verbürgerlichung den Weg. Und dies nicht nur aus moralischer Reaktion, sondern in noch erschreckenderem Maße durch die Versachlichung der intimsten menschlichen Beziehungen. Liebe wird auf ihre physiologische Notwendigkeit reduziert, der Eros, und somit das Medium des Künstlerischen, Schöpferischen ausgeschaltet.

Anders ist die Situation in dem vom philosophischen Materialismus beherrschten Osten. In den Stücken sowjetischer Autoren etwa finden wir noch das, was man landläufig als reine Liebe zwischen jungen Leuten bezeichnet. Aber soweit das Idyllische nicht nur in Diktaturen übliches Zugeständnis an den Geschmack der Massen ist, steht dahinter der Glaube an eine erreichbare Ordnung. Kunst ist nur Mittel zum Zweck. Wenn diese Ordnung erreicht ist, hat die Kunst sich erfüllt. Das „darüber hinaus“, das Streben nach dem Unerfüllbaren, als ob es erfüllbar wäre, das Erotische, fehlt. Das macht diese Stücke brav, lehrhaft, damit unkünstlerisch.

Entlarvung der Gesellschaft?

Gibt somit das moderne Drama des Westens die Intimsphäre einer Gesellschaft preis, die zur erotischen Leidenschaft nicht mehr fähig Ersatzbefriedigung im Sexus sucht, so tendiert das Drama des Ostens und seine Ableger im Westen nach einer neuen Bürgerlichkeit, in der Liebe durch soziales Gleichgewicht ersetzt werden soll. In beiden Fällen leidet durch den Verlust des Eros die künstlerische Qualität, wird das Drama zur bloßen, wenn auch zynischen Unterhaltung oder zum didaktischen Lehrstück. Es ist hier der Platz, den frühverstorbenen, von den Nationalsozialisten verbannten Walter Schulbart zu zitieren. Was er in bezug auf das bürgerliche Jahrhundert ausspricht, kann ebenso für eine künftige, rationalistisch gedachte Gesellschaftsordnung zutreffen: Er sagt: „Eros, der grimmigste Widersacher des gliedernden Rechtsdenkens und der Versachlichung des Lebens zog sich zurück und mit ihm

wich das dionysisch-schöpferische Element aus der abendländischen Kultur.“ Das bedeutet, daß dem Verlust des Eros unweigerlich der Verlust der Kunst folgen muß, und damit der Verlust einer, wenn nicht der wesentlichen Manifestation des Humanen.

Aber lassen wir das Spekulative und wenden wir uns noch einmal dem Theater von heute zu, dem Theater unserer Zonen, das doch mit Stücken wie denen von Bond, Pinter, Barnes, Sperr, Krötz, Turrinl, Sommer oder Bauer durchaus keine Konstruktionen, sondern sehr lebensnahe, beängstigende Handlungen darstellt. Unbestreitbar sind die meisten von ihnen bemüht, durch die Entlarvung einer mitleidlosen Gesellschaft das Mitleid mit der geschundenen Kreatur wachzurufen. Aber gerade ihre krasse Gegenüberstellung einer sexuellen Besitzgier, die sich in bewußt banalen oder sadistischen Szenen manifestiert und der Hilflosigkeit der Unterdrückten, die, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen, ihre Parallele in der bürgerlichen Aufteilung der Liebe in körperlich schmutzig und seelisch rein findet, beweist aufs neue den Verlust des Erotischen, der wahren Leidenschaften, durch die Romeo und Julia oder Ferdinand und Luise ergreifen konnten. Die unverhüllte Darstellung des Geschlechtlichen macht die Zuschauer überdies zu Voyeuren oder stumpft sie vollends ab. Damit wird — zum Teil aus naturalistischem Wahrheits- oder besser Wirklichkeitsfanatismus, zum Teil aus berechnender Sensationsgier — der Reiz, den sexuelle Darstellungen in früheren Theateraufführungen auf das Publikum ausübten, entkräftet. Mit andern Worten: waren sexuelle Momente im Theater aller Zeiten Signale erotischer Leidenschaft, sind sexuelle Darstellungen die nicht reizen oder schockieren, sondern lediglich aufzeigen. Das Geschlechtliche wird genau so zu einem Vorgang wie Essen und Trinken, Liebe so viel wie Hunger und Durst. Eros ist im modernen Drama, manifestiert im Sex, weder etwas verab-scheuungswürdig Unmoralisches noch etwas verehrungswürdig Göttliches, und schon gar nicht jene dämonische Macht, die allein fähig ist, den Menschen auf höchste Höhen zu erheben und in tiefste Abgründe zu stürzen, sondern lediglich ein biochemischer Vorgang. Der nackte Mensch auf der Bühne ist nicht mehr, wie vor noch nicht allzulanger Zeit beim Spanier Ramon de Valle-Inclan, Symbol für Sünde oder Schönheit, sondern für Wirklichkeit. Die Desillusionierung auf dem Theater bedeutet heute Desillusionierung des Lebens überhaupt Biologie verdrängt die Psychologie: Das Leben als chemischer Prozeß.

Das beweist aufs neue die Unterwerfung der Kunst unter eine mißverstandene Wißsanschaft, die Verleugnung des Eros, als der ewig unbefriedigten schöpferischen Macht, ohne die es nicht nur kein Theater, keine Kunst, sondern auch Hoffnung und Liebe nicht geben kann.

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