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Shenzhen, die rote Retorte

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China setzt auf Wirtschaftsreform. An der Grenze zu Hongkong wurde eine der vier Sonderzonen geschaffen, in denen die Volksrepublik jetzt mit dem Wohlstand experimentiert: Shenzhen, die rote Retorte. Durch eine „kleine Mauer“ vom übrigen System getrennt. Die FURCHE hat sich dort umgesehen.

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China setzt auf Wirtschaftsreform. An der Grenze zu Hongkong wurde eine der vier Sonderzonen geschaffen, in denen die Volksrepublik jetzt mit dem Wohlstand experimentiert: Shenzhen, die rote Retorte. Durch eine „kleine Mauer“ vom übrigen System getrennt. Die FURCHE hat sich dort umgesehen.

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Wo heute Wolkenkratzer aus dem Boden schießen, standen vor gar nicht so langer Zeit nur Hütten: das kleine Dorf Baon mitten in einsamer Landschaft, nicht ganz 30 Kilometer von der Grenze zur britischen Kronkolonie Hongkong entfernt.

Die Planierraupen haben diese Vergangenheit und die Landschaft eingeebnet: Seit Beginn dieses Jahrzehnts wächst dort ein Versuchsort, die Stadt Shenzhen, Chinas rote Retorte für Wirtschaft und Wohlstand.

Shenzen ist eine der vier Sonderzonen der Volksrepublik, in denen das Land zur entwicklungspolitischen Aufholjagd bläst.

Shenzhen ist ein Produkt der Öffnungspolitik Chinas, Experimentierfeld für „ein Land und zwei Systeme“ (FURCHE 39/ 1985), für Sozialismus und Kapitalismus. Shenzhen wurde ein Verschnitt.

Das Ziel: Ein Fenster, zu Hongkong, das 1997 mit China vereinigt wird, und gegen Westen offen, damit ausländisches Kapital, fortschrittliche Technologie und moderne Managementmethoden ins Land kommen.

Das Ergebnis: Ein „Klein-Hongkong“, losgelöst von der weltältesten lebenden Kultur des Landes.

Shenzhen soll Fenster sein, wohl aber auch Schaufenster: Vom übrigen China durch eine „kleine Mauer“ abgeschirmt — und für Chinesen nur mit Sonderausweis besuchbar —, ist die eigentlich 59 mal sieben Kilometer große Sonderzone in jeder Beziehung ein Sonderfall: Die Wirtschaft ist dort—nicht nur gut, sondern ausgezeichnet. Und damit eigentlich atypisch.

So wie man bemüht ist, ausländischen Besuchern in China Rückständigkeit und Armut zu verbergen, versteckt man vor vielen Chinesen das Hongkong-Hinterland.

Ein 53stöckiges internationales Handelszentrum ist heute Symbol für den rasanten Aufstieg der Stadt. Lag der Wert der Industrieproduktion 1979 noch bei 60 Millionen Yuan, waren es 1984 nicht weniger als 1,8 Milliarden. Die Einwohnerzahl explodierte von 30.000 auf 200.000, wozu noch weitere 200.000 vorübergehende Bewohner kommen, gut die Hälfte davon Bauarbeiterrber Bauboom — häßlichschön wie in unseren Breiten — soll sicherstellen, daß Ende dieses Jahrzehntes 600.000 Menschen in Shenzhen Wohnung und Arbeit finden. Dahingestellt bleibt, ob sie eine Heimat finden werden.

Zu Hause in Shenzhen sind heute jedenfalls bereits an die 600 Industriebetriebe, darunter 100 mit ausländischer Kapitalbeteiligung, vor allem Joint Ventures mit Japan- und Hongkong-Partnern, die nebst Kapital das Know-how einzubringen haben.

Zum Beispiel hat sich „Sanyo“ in Shenzhen angesiedelt. In den Betrieb, in dem Kassettenrecorder und Farbfernseher gefertigt werden, haben Japaner und Chinesen je drei Millionen US-Dollar eingebracht.

In der einjährigen Zusammenarbeit verließen bereits 800.000 Kassettenrecorder und 600.000 Farbfernseher das Fließband, eine „verlängerte Werkbank“. Denn die Bestandteile kommen aus dem Ausland, aus Japan, aus Hongkong, sogar aus Taiwan

(lassen Kartonaufschriften schließen).

Selbstverständlich ist der Firmenchef ein Chinese. Doch die weitere Betriebshierarchie ist durchaus einleuchtend und typisch: Der Chef manager ist ebenso wie der Leiter der Finanzabteilung und der Kontrolle ein Japaner. Sie bringen das ein, woran es der chinesischen Wirtschaft nebst Kapital sichtlich mangelt: Erfahrung.

Im November wird der Betrieb erweitert: eine Plastikgußfabrik für die Gerätegehäuse wird den chinesischen Wirtschaftsstolz weiter heben. Nur 30 Arbeiter und Angestellte werden zur Bedienung der Roboteranlage nötig sein. Fortschritt in einem Land, das neben Technologie vor allem Arbeitsplätze braucht.

Fortschritt, unbestritten, von dem man profitiert. „Innerhalb von nur fünf Jahren gab es eine Entwicklung, die früher in 20 bis 30 Jahren nicht erreicht wurde“, resümiert Zou Erkang, Mitglied der Stadtregierung. Er kann zufrieden sein: 15 Prozent der Betriebsgewinne werden als Steuer abkassiert.

Nicht nur Industriebetriebe wurden aus dem Boden gestampft, sondern auch Erholungszentren in den Bergen um Shenzhen, die alles bieten, was die einen unter modernem Leben und die anderen im fernen Beijing (Peking) unter „ungesunder bürgerlicher Liberalisierung“ verstehen.

Jedenfalls versteht man sich in Shenzhen auf Devisen: Mit Vergnügungspark und Disco, kurzfristig sogar mit Glücksspiel („Erholungszentrum für Erwachsene“), lockt man Gäste in die neuen Gartenlandschaften abseits der Wolkenkratzer.

Das System hat System

Die Besuchermassen kommen — und anders als die Chinesen: ohne besondere Formalitäten — aus dem 40-Zug-Minuten entfernten Hongkong, auch eine direkte Busverbindung gibt es im kleinen Grenzverkehr, um hier Luft und Landschaft zu genießen. Daher wird auch der Hongkong-Dollar zumindest als Zweitwährung gehandelt.

Hier ist Hongkong nah, Beijing sehr fern — und das nicht nur in Kilometern. Zum Greifen nahe sind auch die gesellschaftlichen Probleme im Gefolge des Wohlstandes.

Trotzdem hat alles System im System. Damit kein Chinese unmittelbar für einen Kapitalisten und seinen Betrieb arbeitet, „schützt“ ihn eine Arbeitsservicefirma unter chinesischer Führung durch Anstellung. Und die kassiert in Hongkong-Dollar. Der Arbeiter bekommt davon 80 bis 90 Prozent in die Hand. In Yuan. Die Differenz „spart“ der Staat. Als Arbeitslosengeld.

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