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„Shoah“ — der Weg in den Holocaust
„Shoah“ - aus dem Hebräischen - heißt Vernichtung, großes Unheil. Lanzmann führt uns in die schreckliche Vergangenheit, die wir verdrängt haben, von der wir nichts wissen (wollen).
„Shoah“ - aus dem Hebräischen - heißt Vernichtung, großes Unheil. Lanzmann führt uns in die schreckliche Vergangenheit, die wir verdrängt haben, von der wir nichts wissen (wollen).
Bei den heurigen Berliner Filmfestspielen war er vieldiskutiert und wohl jener Film, über den am meisten und am ausführlichsten geschrieben wurde. Knapp ein Monat später stand er auf dem Programm der Viennale.
Wem immer ich erzählte, daß ich diesen Film nun endlich sehen würde, dessen erste Frage war: Wie kann man denn das aushalten; wird er an einem Abend vorgeführt? — Die erste Information, die beeindruckte und bemerkt wurde, war die Länge des Films von neuneinhalb Stunden (genau: 566 Minuten, die übrigens auf zwei Abende verteilt wurden). Doch selbst in dieser Äußerlichkeit dokumentiert sich bereits, daß dieses Werk die üblichen Kategorien sprengt.
Bevor man ins Kino geht, weiß man schon, daß es diesmal anders ist als sonst. Diesmal muß man
Von RICHARD RICHTER
sich auf etwas einlassen, diesmal muß man sich an etwas ausliefern. Mir selbst ging es zumindest so.
Heute, vierzig Jahre nach der „Endlösung“, dem systematischen Hinmorden der Juden im Dritten Reich, ist es schwierig, dieses Geschehen darzustellen und in seiner ganzen Unbegreiflichkeit begreifbar und vorstellbar zu machen, es mahnend lebendig zu erhalten. Wohl fast jeder kennt zwar das historische Stichwort, für zu viele ist es damit aber auch schon getan. Die Information ist als solche abgelegt, und im übrigen sollte man damit jetzt endlich aufhören. Das sei doch längst Vergangenheit.
Claude Lanzmann war sich dieser Situation ganz klar und schmerzlich bewußt. So wählte er eine Perspektive und eine Form, die dem, der sich darauf einläßt, keinen Fluchtweg der Verdrängung, Distanzierung und Rationalisierung offenlassen will. Mit den (schon bekannten) historischen Photos und Filmen läßt sich das Grauen nicht zeigen. Die oftmals reproduzierten Bilder von Leichenbergen haben wir als Benutzer der modernen voyeuristischen Medien zu „verdauen“ gelernt. Wir schieben sie in die historische Distanz, aus der sie keine Betroffenheit mehr in uns auslösen können. Konsequenterweise verzichtet Lanzmann also auf jedes Bild der damaligen Zeit. Statt dessen konfrontiert er uns (fast) ausschließlich mit Menschen, die dieses Geschehen miterlebt haben.
Uber neun Stunden erleben wir ihre Erzählungen: derer, die durch ein Wunder die Vernichtungslager überlebt haben, der Täter und Mittäter, des Lokomotivführers, des Bahnhofs vor Standes, des Fahrplanchefs für die Sonderzüge, des SS-Mannes, und derer, die unmittelbar neben diesem Geschehen lebten. Wir sehen ihre Gesichter und hören ihre Stimmen, und Zug um Zug entsteht das Bild dessen, was in Chelmno, Treblinka, Sobibor und Auschwitz vor sich ging.
Der Friseur hat heute ein Geschäft in Israel. Er schneidet jemandem die Haare und erzählt dabei, wie er in der Gaskammer den Hineingetriebenen, Minuten bevor sie ermordet wurden, die Haare abschneiden mußte. Seine Stimme bricht, er weint und bittet, nicht weitererzählen zu müssen. Doch im Bewußtsein, wie wichtig das Weitergeben seiner Erfahrungen ist, zwingt er sich in die Qual des Erinherns und berichtet weiter.
Minuziös schildern die Uberlebenden das Funktionieren dieser Maschine des Wahnsinns. Was sie sagen, gleicht sich auf furchtbare Weise und ist doch nie das gleiche. Kein Satz ist zuviel, keiner ist dabei überflüssig. Im entsetzlichen Kontrast dazu die Mittäter. Selbst nach vierzig Jahren sprechen sie noch die gleiche Sprache, die kalte, distanzierte Vernichtungsterminologie, in der alles auf das organisatorische Problem reduziert wurde, wie möglichst viele Juden pro Tag zu „verarbeiten“ wären. Nie wurde mir klarer, daß sie bis heute im Kern ungerührt geblieben sind.
Und zwischendurch Bilder der Stätten, wie sie heute aussehen. Die friedliche Wiese im Herbstlicht und der stille, sonnendurchflutete Wald — das ist etwa Treblinka. Die sichtbaren Spuren sind getilgt. Geblieben sind die Spuren in. der Erinnerung, deren Stimmen uns sehen lassen, was sich unter diesem Gras, diesen Bäumen verbirgt.
In Chelmno wurden 400.000 Juden ermordet. Dort geschah das vor den Augen des ganzen Dorfes, das Verladen in die LKWs, in denen sie auf der Fahrt durch den • Ort an den eingeleiteten Auspuffgasen erstickten. Auch diese Zeugen befragt Lanzmann. Die Beobachter und jene, die heute in den Häusern der getöteten Juden leben. Nur ganz wenige bedauern das Geschehene, kaum jemand empfindet einen Verlust.
Im Gegenteil — die Frauen müssen die hübschen jüdischen Mädchen nicht mehr fürchten, die Männer haben weniger Konkurrenz im Geschäftsleben. Die schockierendste, weil unerwartete Erfahrung verbindet sich für mich damit. Seither werde ich den Gedanken nicht mehr los, daß wir vor einer Wiederholung nicht so sicher sind, wie wir uns alle selbst gern glauben machen möchten.
Darum ist „Shoah“ so wichtig. Der Film holt dieses unfaßbare Geschehen aus den Geschichtsbüchern und Dokumentationen wieder zurück ins Leben. „Trotz all unserer Kenntnisse blieb die grauenhafte Erfahrung uns doch äußerlich“, schrieb Simone de Beauvoir dazu. „Shoah“ gelingt es, diese Distanz aufzuheben. Hier wird Geschichte wieder zu dem, was die doppelte Bedeutung des Begriffes enthält: weitergegebene Erzählung von Erlebtem, von Erlittenem.
Der Film gibt sich und uns die Zeit, dies alles zu erfassen. Was vor vierzig Jahren geschah, so weiß man am Ende, ist heute noch lebendig in den Opfern und deren
Kindeskindern. Niemals kann es Vergangenheit sein. Erst wenn alle Schuldigen, Mitschuldigen und Unschuldigen - gerade auch meine Generation, die lange Nachgeborenen, sich dem aussetzen und berühren lassen und auch in sich lebendig werden lassen können, kann die „Trauerarbeit“ beginnen.
In ihr, die wir alle leisten müssen, können wir erkennen, wo im Heute das Gestern noch steckt. Nur wenn wir nicht aufhören, mehr über den Wert und auch die Abgründe des Menschen zu lernen, lernen wir auch wahrzunehmen, wo wir jetzt und heute noch immer und schon wieder mitschuldig werden. „Shoah“ ist dazu der wichtigste Beitrag seit langem.
Der Autor ist Mitglied der Osterreichischen Katholischen Filmkommission.
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