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Sicherheit und Zusammenarbeit? «

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Nun ist also mit Glänz und Gloria in der finnischen Hauptstadt ein mehr als zweijähriges west-östliches Diplomatenspiel zu Ende gegangen. Die Reden, die wir aus diesem Anlaß gehört haben, zeigten — wie könnte es anders sein— eine Palette von extremen Lobsprüchen bis zu einem gesunden Skeptizismus, und wir Europäer müssen uns fragen, wo die Wahrheit liegt. Diese Frage ist nicht damit zu beantworten, daß man einfach die Mitte anpeilt und etwa sagt: es wird schon etwas Vernünftiges dabei herausgekommen sein. Um sich über das Ergebnis der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit“ ein halbwegs richtiges Urteil bilden zu können, muß man zum Ausgangspunkt der Be-mühungen um diese Konferenz zurückgehen.

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Nun ist also mit Glänz und Gloria in der finnischen Hauptstadt ein mehr als zweijähriges west-östliches Diplomatenspiel zu Ende gegangen. Die Reden, die wir aus diesem Anlaß gehört haben, zeigten — wie könnte es anders sein— eine Palette von extremen Lobsprüchen bis zu einem gesunden Skeptizismus, und wir Europäer müssen uns fragen, wo die Wahrheit liegt. Diese Frage ist nicht damit zu beantworten, daß man einfach die Mitte anpeilt und etwa sagt: es wird schon etwas Vernünftiges dabei herausgekommen sein. Um sich über das Ergebnis der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit“ ein halbwegs richtiges Urteil bilden zu können, muß man zum Ausgangspunkt der Be-mühungen um diese Konferenz zurückgehen.

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Bekanntlich wurde die Idee zu einer solchen Konferenz im Kreml geboren, und die Gründe für das sowjetische Bestreben lagen von allem Anfang an klar auf der Hand. Die Sowjetunion wollte mit einer solchen Konferenz zwei Ziele erreichen. Zunächst einmal ging es den Russen um die de-jure-Anerken-nung des seit 1945 in Europa bestehenden politischen Zustandes. Der Zweite Weltkrieg hat bekanntlich bis heute nicht mit einem allgemeinen Friedensvertrag, sondern mit dem Waffenstillstand und der bedingugslosen Kapitulation

Deutschlands am 8. Mai 1945 geendet. Wohl gab es seither im Westen wie im Osten büaterale Friedensverträge oder ähnliche völkerrechtliche Abkommen, die im jeweiligen bilateralen Verhältnis als Friedensvertrag anzusehen sind, aber es mangelt bis heute an einem umfassenden Vertrag, den alle ehemals Krieg führenden Staaten miteinander geschlossen hätten. Zyniker behaupten, daß die dreißigjährige Friedensperiode in Buropa eben auf diesen Mangel eines allgemeinen Friedensvertrages zurückzuführen sei, denn die europäische Geschichte kannte bisher keinen so langen Zeitraum ohne irgendeinen Waffengar.g.

Im Mai 1945 wurden die in der Konferenz von Jalta vereinbarten neuen politischen Grenzen gezogen, wobei die letzten Korrekturen, nämlich die Teilung Berlins und die Verschiebung der Besateungszonen in Österreich (Wien, Steiermark und Mühlviertel) erst im Herbst 1945 vorgenommen wurden. Die einzige tatsächliche Korrektur des Abkommens von Jalta stellte der österreichische Staatsvertrag von 1955 dar, demzufolge die Russen auf ihren militärischen Einflußbereich in Österreich verzichteten, wobei Moskau zur Kenntnis nahm, daß Österreich uneingeschränkt dem gesellschaftspolitischen System des Westens zugehörig ist, wofür unser Land mit dem völkerrechtlichen

Status der Immerwährenden Neutralität gewissermaßen bezahlte. Es muß allerdings immer wieder darauf hingewiesen werden, daß der Neutralitätsstatus Österreichs kein Bestandteil des Staatsvertrages ist, wohl aber, daß die österreichische Zusage, dem Land einen Neutralitätsstatus zu geben, eine Voraussetzung für das Zustandekommen des Staatsvertrages gewesen ist. Das ist kein bedeutungsloses Spiel mit Worten. Wäre der Neutralitätsstatus nämlich ein Bestandteil des Staatsvertrages, so hätten die Staatsvertragspartner Österreichs ein vertraglich verankertes Recht, die Neutralitätspolitik Österreichs zu kontrollieren. Was das unter Umständen bedeuten könnte, muß nicht näher erläutert werden. Das Bundesverfassungsgesetz über die Immerwährende Neutralität wurde daher aus optischen Gründen bewußt erst am 26. Oktober 1955 vom Nationalrat beschlossen, dem ersten Tag, an dem Österreich nach mehr als 17 Jahren wieder frei von fremden Besatzungstruppen war. Seit 1955 hat sich an den politischen Grenzen in Europa nichts mehr geändert. Trotzdem gab es keinen internationalen, völkerrechtlichen Vertrag, der diesen “ De-faCto-Zustan- auch de jure bestätigt hätte. Der Sowjetunion ging es also einmal um die völkerrechtliche Anerkennung ihres politischen Besitzstandes in Europa.

Die zweite Wurzel der sowjetischen Bemühungen um die 'Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit ist in dem von Nikita Chruschtschow verkündeten Prinzip der Koexistenz zu suchen. Mit Chruschtschow war das Ende des Kalten Krieges gekommen, jener Periode erbitterter Gegnerschaft zwischen West und Ost, in der alle Instrumente eines Feindverhältnis-ses eingesetzt wurden, mit Ausnahme der Waffengewalt. Dieses Prinzip der Koexistenz besagt, daß die beiden gesellschaftspolitischen

Strukturen, hier Parteiendemokratie und Marktwirtschaft, dort totalitäres Einparteisystem und Staatswirtschaft, nebeneinander existieren können, auf gegenseitige Einmischung in die inneren Verhältnisse des anderen verzichten und wirtschaftliche Kooperation anstreben. Dies heißt aber nicht, daß die kommunistische Seite ihr Programm der Weltrevolutionierung aufgegeben hätte, sondern bestenfalls hic et nunc keine diesbezüglichen aggressiven Handlungen gesetzt werden sollen. Erst in jüngster Zeit hat dies der oberste sowjetische Pragmatiker, Suslow, wieder ausdrücklich verkündet, indem er feststellte, daß durch die Koexistenz in keiner Weise die kommunistische Weltrevolution aufgegeben wurde. Wir sehen ja an den Ereignissen in Portugal den Beweis für diese Tatsache. Es ist bekannt, daß sich die kommunistische Partei Portugals jeder nur denkbaren ideellen und materiellen Unterstützung der kommunistischen Partei der Sowjetunion erfreut, und es bedarf keinerlei prophetischer Begabung, um zu erkennen, daß Portugal in kürzester Zeit ein rein kommunistischer Staat sein wird. Erstaunlich ist dabei nur, daß es im Westen noch immer politische Ignoranten gibt, die ihre Augen davor verschließen. Im übrigen konnte man das, was sich nun in Portugal abspielt, schon vor 20 Jahren in dem Buch von Wolfgang Leonhard „Die Ravolution entläßt ihre Kinder“ nachlesen. Dort findet sich eine ausführliche Beschreibung darüber, wie man aus einem demokratischen Parteienstaat oder auch — wie im Fall Portugals — aus einer Republik mit autoritären Strukturen eine Volksdemokratie macht. Das Programm wird in Portugal genau nach dem von Leonhard vorgezeichneten „Unterrichtsschema“ abgewickelt. Der Ablauf der portugiesischen Ereignisse ist im übrigen auch eine Abfuhr für die noch immer existierenden Konvergenztheoretiker, die bekanntlich behaupten, daß sich die beiden gesellschaftspolitischen Systeme mit der Zeit so annähern würden, daß schließlich ein politisches und ökonomisches Mixtum Compositum dabei herauskäme, das als gangbare Lebensform der Zukunft unvermeidlich und daher anzusteuern sei. In Portugal wird deutlieh vorexerziert, daß es mit dem Kommunismus als System keinen Kompromiß geben kann, weil totalitäre Strukturen nun eben einmal totalitär sind und jede Aufweichung für sie inakzeptabel ist.

Man muß die Dinge so realistisch beurteilen, wie sie nun einmal sind. Die Anerkennung der politischen Gegebenheiten ist ja auch das sowjetische Ziel, das nun in Helsinki erreicht wurde. Daß dabei auf Moskauer Seite auch positiv zu wertende Elemente vorliegen, steht außer Zweifel. Vor allem wünscht die Sowjetunion so wenig wie der

Westen eine militärische Konfination zwischen West und Ost, und sie braucht in zunehmendem Maße lie wirtschaftliche Zusammenarbeit, weil es ihr sonst nicht möglich wäre, hr Programm der wirtschaftlicher Erschließung ihres Landes, voi »Hern Sibiriens, in absehbarer Zeil jnd so durchzuführen, wie sie es wünscht, nämlich mit möglichsl »roßem wirtschaftlichem Effekt, üewiß könnte Sowjetrußland seine wirtschaftlichen Vorhaben in Sibirien auch aus eigener Kraft und mi1 eigenen Mitteln bewerkstelligen, würde dazu aber ohne das westliche Cnow-how und ohne die vom Westen zu tätigenden großen Investitionsvorhaben viel länger brauchen, als dies auf Basis einer wirtschaftlichen Kooperation mit dem Westen möglich sein wird. Diese Jkonomischen Überlegungen Mostaus kommen aber auch in hohem

Maße den wirtschaftlichen Bedürfnissen des Westens entgegen. In den westlichen Industriestaaten ist die Produktionskraft der Industrie infoige der technologischen Entwicklung fast ins Ungemessene gestiegen. Das aber zwingt dazu, neue Absatzmärkte zu erschließen. Die plötzlich aufgetretene Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten und, in abgeschwächtem Maße, auch in Westeuropa, zeigt die Dringlichkeit dieses Problems. Neue Absatzmärkte für den Westen werden sich, vom afrikanischen Raum abgesehen, dessen wirtschaftliche Entwicklung noch geraume Zeit in Anspruch nehmen wird, vornehmlich im Osten finden, Wenn daher die UdSSR das Tor zur wirtschaftlichen Kooperation öffnet, dann ist für lange Zeit auch im Westen mit einer neuen wirtschaftlichen Expansion zu rechnen.

Nur vor diesem Hintergrund läßl sich die oben gestellte Frage nach dem Wert oder Unwert der nun abgeschlossenen Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit beantworten. Betrachtet man nämlich die in Helsinki feierlich unterschriebener und besiegelten Albmachungen, sc erkennt man sofort, daß das unmittelbare Vertragsergebnis als das bezeichnet werden könnte, was im alten römischen Recht eine „Societa« Leonina“ genahnt wurde, ein Vertrag nur zugunsten einer Seite, nämlich der Sowjetunion. Sie erhielt feierlich bestätigt, was sie zwar de facto schon besaß, nämlich die de-jure-Anerkennung des tatsächlichen politischen Zustandes Europas, ein eminent politischer Erfolg während die „Konzessionen“, die dem Westen gemacht wurden, kaum diese Bezeichnung verdienen unc außerdem nur in die Form von Absichtserklärungen gekleidet wurden deren Erfüllung nicht nur vom guten Willen abhängig, sonderr auch mehr als fraglich ist, weil es für ihre Nichteinhaltung keine praktischen Sanktionen gibt. Allein dei Vorbehalt, daß alle Vertragsbestimmungen der inneren Gesetzgebung der Vertrag schließenden Staaten unterliegen, läßt die dem Westen eingeräumten Konzessionen obsolet erscheinen. Was sollen für ausländische Journalisten zugesagte Infor-mations- und Reiseerleichterungen in der Sowjetunion viel bedeuten, wenn man weiß, daß die sowjetische Gesetzgebung solche Möglichkeiten nur in sehr engem Rahmen gestattet?

Es entsteht nun vielleicht die Frage, warum die sowjetische Seite an dem Zustandekommen und dem Abschluß der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit ein so großes Interesse hatte, wenn es ihr, wie oben gesagt, doch nur das de jure brachte, was sie de facto bereits besaß. Um diese Frage zu beantworten, muß man die innerpolitische Entwicklung in der UdSSR berücksichtigen. Leonid Breschnjew ist ohne Zweifel jener bedeutendste sowjetische Politiker, der das Prinzip der wirtschaftlichen Kooperation mit dem Westen am nachdrücklichsten vertritt. • Es muß objektiverweise hinzugefügt werden, daß der Politik Breschnjews sicherlich dabei nicht nur ökonomische Überlegungen zugrundeliegen, sondern auch die Erkenntnis, daß wirtschaftliche Zusammenarbeit eine der Grundlagen für eine friedliche Entwicklung darstellt. Nun gibt es bestimmt im sowjetischen Führungsgremium auch andere Stimmen, die nicht der Tendenz der friedlichen Koexistenz und wirtschaftlichen Kooperation entsprechen. Um nun in diesem Zusammenhang die Richtigkeit der Politik Breschnjews zu unterstreichen, vielleicht auch erst wirklich durchzusetzen, war ein Erfolg der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit notwendig. Wir können daher auch annehmen, daß die Stellung Breschnjews durch die Vertragsunterzeichnung in Helsinki wieder eine bedeutende Stärkung erfahren wird.

Nun stellt sich noch die Frage, warum der Westen diese „Societas Leoninä“ abgeschlossen hat. Die Antwort ergibt sich aus dem schon Gesagten und ist in den ökonomischen Vorteilen zu suchen, die mit großer Wahrscheinlichkeit samt und sonders nicht eintreten würden, hätte die Sicherheitskonferenz keinen Abschluß gefunden. So gesehen, ist das Abkommen von Helsinki auch für den Westen ein Erfolg. Wäre es zu keinem Abschluß gekommen, hätte sich am de-facto-Zustand Europas ebensowenig geändert, wie sich nach Helsinki etwas ändern wird. Aber man kann annehmen, daß es in diesem Fall für die west-östliche und ost-westliche Wirtschaftskooperation für längere Zeit keine politische Grundlage gegeben hätte. Was ..hat also der Vertrag von Helsinki gebracht? Da ist einmal der politische Zustand Europas, wie er seit 1945 (bzw. 1955) besteht, mit Unterschrift und Siegel bestätigt worden; zum andern aber wurden die Tore für eine positive Entwicklung der Weltwirtschaft wenigstens so weit geöffnet, als dies unter den gegenwärtigen Umständen möglich war. Der Osten hat de jure gewonnen, was er de facto schon hatte. Der Westen hat nichts verloren, was er vorher besessen hätte. Beide Teile aber können ihre wirtschaftspolitischen Absichten verwirklichen. Warum hätte Helsinki also nicht stattfinden sollen?

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