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Sicherheitsexplosion

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„In Zeiten wie diesen“ wird Sicherheit zum klingenden Schlagwort, das sich in Politik und Wirtschaft gut verkauft. Wie fragwürdig das überzogene Sicherheitsstreben ist, zeigt der folgende Beitrag.

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„In Zeiten wie diesen“ wird Sicherheit zum klingenden Schlagwort, das sich in Politik und Wirtschaft gut verkauft. Wie fragwürdig das überzogene Sicherheitsstreben ist, zeigt der folgende Beitrag.

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Nie haben die Menschen gewaltigere Anstrengungen unternommen, um sich gegen Krankheit, Not, Unfälle, Diebstahl, Gewalt, Subversion und kriegerische Aggression zu sichern. Ein dichtes Netz sozialer Sicherungen bietet nahezu allen Gruppen Schutz gegen nahezu alle Risiken…

Unser Rechtssystem läßt kaum etwas ungeregelt. Wo unseretJuri- sten eine Rechtslücke erspähen, erfaßt sie der horror vacui: Erst wenn sie ausgefüllt ist, können sie wieder ruhig schlafen.

Eine blühende und expandierende Sicherheitsindustrie ergänzt das staatliche Angebot. Mit

dem Verkauf von Sicherheit lassen sich glänzende Geschäfte machen, auch und gerade in Krisenzeiten.

Beunruhigende Fragen stellen sich ein: Was hat diese Explosion von Sicherheitsleistungen verursacht? Und: Hat sie uns tatsächlich, alles in allem, mehr Sicherheit, mehr Freiheit von Angst gebracht? Oder ist die Maßlosigkeit unseres Sicherheitsbedürfnisses nur Indiz für die Maßlosigkeit unserer Angst?

Dafür daß sich unsere Anstrengungen, mehr Sicherheit zu schaffen, im ganzen gelohnt haben, wenn auch einiges sündhaft teuer ist, dafür haben wir plausible Belege parat Immerhin leben wir seit 35 Jahren im Frieden. (Die mehr als 150 kleinen und größeren Kriege, die seit 1945 ausgefochten wurden, fanden nicht bei uns statt.) Im Sozialstaat muß niemand Hunger leiden, hat jeder ein Dach über dem Kopf, auch im Alter. Wer krank wird, erhält medizinische Betreuung, auch wenn er nicht wohlhabend ist. Selbst Arbeitslose fallen nicht ins Bodenlose…

Was liegt näher, als auf dem eingeschlagenen Weg fortzuschreiten, wenn er bisher doch offenbar erfolgreich war? Bedarf an Sicherheitsleistungen gibt es genug. Wer mehr Sicherheit fordert oder verspricht, stößt allzumal auf offene Ohren und zumeist auf offene Kassen. Sicherheit hat ihren Preis — das leuchtet ein. Aber wie hoch darf der Preis sein? Wann ist der Punkt erreicht, da wir die Kosten mit dem Nutzen vergleichen und zu dem Ergebnis kommen, daß noch mehr Sicherheit sich nicht lohnt?

Im Bereich der militärischen Sicherheitspolitik ist der Wahnsinn am offensichtlichsten, was keineswegs bedeutet, daß hier eine Wende am ehesten zu erwarten ist. Ein Weltkrieg aus Versehen oder aus menschlichem Versagen wird immer wahrscheinlicher, je schlagkräftiger, zielgenauer und schneller die Machtblöcke sich gegenseitig zu vernichten vermögen. Zweimal gaben amerikanische Computer im Jahr 1980 Fehlalarm, stiegen Atombomber auf, wurden Raketen abschußfertig gemacht…

Die Fachleute glauben an die Systeme und mißtrauen den Menschen. Ihr Rat: Delegiert eure Entscheidungsfreiheit an die Apparate; die entscheiden objektiv, unbestechlich, fehlerlos; dadurch allein gewinnt ihr optimale Si

cherheit. Es ist dieser Prozeß der ständigen Verlagerung von Verantwortung von den Menschen auf die Apparate, der uns zwar einerseits von quälender Unsicherheit, von der Qual der Wahl, von täglicher Sorge und Vorsorge entlastet, der uns aber gleichzeitig immer gründlicher anonymen Mächten ausliefert.

Geht etwas schief oder werden Schwächen und Lücken im System sichtbar, so erkennen wir unser Ausgeliefertsein. Panik erfaßt uns und mündet regelmäßig in den Ruf nach Perfektionierung des Systems. Aber die Perfektionierung des Systems erhöht zugleich unsere Abhängigkeit von ihm. Sicherheit wird so zum destruktiven Ideal.

Zu wenig Sicherheit macht unfrei, aber zuviel Sicherheit kann auch unfrei machen. Wer den Schritt ins Ungesicherte nicht wagt, wer sich der allumfassenden Fürsorge einer „overprotecti- ve mother“ nicht zu entziehen vermag, kann ein Leben lang unselbständig bleiben.

In der Organisation der Gesellschaft ist das nicht anders. Wenn versucht wird, die Bürger gegen alle nur denkbaren Risiken und Gefahren systematisch abzuschirmen, wenn die Bürger von der Wiege bis zur Bahre umfassend betreut und beschützt werden, kann sich freiheitliches gesellschaftliches Leben nicht entfalten. Das absurde Ergebnis ist auch hier: Angst und Unsicherheit wachsen mit dem Umfang der Sicherheitleistungen.

Wir neigen dazu zu übersehen, daß Unsicherheit notwendig und unabänderlich zur „condition hu- maine“ gehört, daß Unsicherheit im tiefsten Grunde, wie Frei sagt, ,.nichts anderes ist als der Spielraum der Freiheit“. So betrachtet, ist unser übersteigertes Sicherheitsbedürfnis auch Ausdruck unserer Angst vor der Freiheit, vor dem unausweichlichen Wagnis der Existenz.

Aber wir können als Menschen

nur menschwürdig leben, wenn wir bereit und fähig sind, diese fundamentale Unsicherheit zu ertragen. Es gibt keine Zukunftsgewißheit, keine Zauberregel erlaubt uns, in allen Situationen stets die richtige Entscheidung zu fällen, keine noch so raffinierte ideologische Rechtfertigung kann uns verläßlich vor dem Biß des Gewissens, vor nagendem Zweifel bewahren. Die Destruktivität des Sicherheitsideals läßt sich in allen Lebensbereichen verfolgen. Wieviel mögliches Liebesglück ist schon verdorben worden, weil einer vom anderen immer wieder Liebesschwüre und Liebesbewei- se verlangte? Das Beharren auf einem Maximum an Sicherheit erstickt jede Spontaneität und Kreativität…

Wie kommen wir aus dem Dilemma heraus, in das wir uns hineinmanövriert haben? Sicherheitsleistungen einfach abbauen ist keine Antwort. Vielmehr kommt es darauf an, daß wir uns über die Quellen unserer Angst Klarheit verschaffen, um durch die Behebung der gesellschaftlichen Ursachen von Angst und Unsicherheit der ständigen Steigerung des Bedarfs an Sicherheitsleistungen entgegenwirken zu können, j . ; .3 Nur dann werden wir auch wieder erkennen, daß ein gewisses Maß an Unsicherheit, ein grundsätzliches und unaufhebbares Risiko zur menschlichen Existenz gehört und daß wir Selbstsicherheit nur gewinnen können, wenn wir dieses Faktum akzeptieren, als gemeinsames Schicksal aller Menschen erkennen und im solidarischen Zusammenleben ertragbar machen.

Johanno Strasser ist Mitherausgeber von L’80, Vierteljahreszeitsehrift für Demokratie und Sozialismus. Der Beitrag ist ein Auszug aus Heft 17.

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