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Sie kam aus einer Traumwelt

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Als Else Lasker-Schüler, nach gescheiterter Ehe mit dem Berliner Arzt Berthold Lasker und nach Jahren ruhelosen Umherirrens sich noch einmal zu einer Heirat entschloß (ihr zweiter Mann wurde der Schriftsteller und Redakteur Georg Levin, geboren 1878, dem sie den Namen Herwarth Waiden gab), nannte sie als Geburtsdatum den 11. Februar 1876. Dieses Datum findet sich in allen älteren Nachschlagewerken und Literaturgeschichten. Jahre nach dem Tod dieser außergewöhnlichen Frau, deren Biographen sich vergeblich damit abmühen, mehr über sie zu erfahren, als selbst ihre besten Freunde wußten, fand Emerich Reeck, der Gründer des Frankfurter Hille-Archivs, jene Eintragung im Geburtenregister der Stadt Elberfeld im Rheinland, die vermutlich das richtige Datum festhält: den 11. Februar 1869. Eifrige Herausgeber korrigierten daraufhin umgehend, was Else Lasker-Schüler zu korrigieren ihnen niemals gestattet hätte. Nur wenige Autoren respektierten den Wunsch der Dichterin und behielten das von ihr selbst bestimmte Datum bei (so Walther Killy in „Epochen der deutschen Lyrik“).

In einer Zeit, die sich ihrer verstorbenen Dichter meist nur aus Anlaß eines Jubiläums erinnert, ist eine Wiederholung des Gedenkens zum hundertsten Geburts-

tag für eine Lyrikerin vom Rang der Lasker-Schüler durchaus angebracht. Nur nebenbei sei angemerkt, daß es, genau genommen, damit eigentlich nicht sein Bewenden haben dürfte. 1922 nämlich verschob „die Lasker“, wie man sie nannte, ihr Geburtsdatum noch einmal auf das Jahr 1881 und 1939 führt ein in Zürich

nach ihren Angaben ausgestelltes Leumundszeugnis das Jahr 1891 als Geburtstermin an. An ihrem fünfzigsten Geburtstag setzt sie selbst ihr Alter endgültig auf fünfzig Jahre fest („sonst habe ich keine Chancen mehr; eine Lyrikerin von hundert Jahren zu sein, ist einfach geschmacklos“) und die Siebzigjährige schreibt

aus Ascona: „16 Jahre wurde ich alt! — Hier haben alle gemeint, wie beinahe richtig: ich bin 27...“

Was immer der Anlaß zu dieser beinahe surreal anmutenden Geschichte gewesen sein mag, weibliche Eitelkeit war dabei sicherlich nicht im Spiel. Zeitgenossen schildern die „großartige Einzelgängerin“ als in einer Traumwelt lebend, fern jeder wie immer gearteten Realität. Sie versteckte sich in Kostümen, hinter selbst gewählten Namen, nannte sich „Jussuf“, „Joseph von Ägypten“, „Tino von Bagdad“, „König David“, bestand darauf, von ihren Freunden so genannt zu werden. In einer Autobiographie (geschrieben für die Anthologie „Menschheitsdämmerung“, 1919) sagt sie: „Ich bin in Theben (Ägypten) geboren, wenn ich auch in Elberfeld zur Welt kam, im Rheinland. Ich ging bis elf Jahre zur Schule, wurde Robinson, lebte fünf Jahre im Morgenlande, und seitdem vegetiere ich.“

Nein, Zeit, Daten, Fakten existierten nicht für diese Frau, die den größten Teil ihres Lebens von allen bürgerlichen Zwängen losgelöst, und sich doch immer nach Geborgenheit sehnend, hei-mat- und mittellos in gemieteten, mit Spielzeug, Puppen und allerlei Tand vollgeräumten Zimmern verbrachte, die in Kellern hauste und auf Parkbänken schlief, die nur in ihren Träumen zu Hause war. Geld, das für sie und ihren über alles geliebten Sohn Paul gesammelt wurde, verschenkte sie an Kollegen. Von sich selbst schrieb sie: „Ich bin die letzte

Nuance von Verlassenheit, es kommt nichts mehr danach —“ und in ihrem großen Gedicht GOTT HÖRT: „Für meine Traurigkeit gibt es kein Maß auf deiner Waage...“ Von den Großen ihrer Zeit verehrt und geliebt (Karl Kraus, Peter Altenberg, Martin Buber, Adolf Loos, Trakl, Kokoschka, Benn zählten zu ihren intimsten Freunden) blieb sie doch immer allein, war immer arm in allen Lebenslagen und zu allen Zeiten ...“ (Benn) und starb vereinsamt 1945 in Jerusalem.

Ihrer, die Gottfried Benn „die größte Lyrikerin des Jahrhunderts“ nannte, an dem von ihr selbst gewählten Geburtstag zu gedenken, der sich am 11. Februar zum hundertstenmal jährt, ist mir, sei uns allen ein Bedürfnis.

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