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Sie ließen sich nicht beugen

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Die armenische Musik hat in der Entwicklung von Kunst und Kultur des Mittleren Ostens eine äußerst bedeutsame Position. Vor allem aber ist sie berufen, in der Geschichte der liturgischen Musik eine noch längst nicht geklärte Vorzugsstellung einzunehmen. — Leider hat sich die Musikforschung ihrer noch viel zuwenig angenommen — wie ja überhaupt die „Wiederentdeckung“ Armeniens erst nach der Jahrhundertwende durch Wissenschaftler, Forscher, Historiker vollzogen wurde. Daß man im allgemeinen über das Land, seine Geschichte und sein Volk so wenig weiß, ist auf Lücken im Geschichts- und Religionsunterricht zurückzuführen, die man vielleicht als Folge der politischen Vergangenheit Europas erkennen kann.

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Die armenische Musik hat in der Entwicklung von Kunst und Kultur des Mittleren Ostens eine äußerst bedeutsame Position. Vor allem aber ist sie berufen, in der Geschichte der liturgischen Musik eine noch längst nicht geklärte Vorzugsstellung einzunehmen. — Leider hat sich die Musikforschung ihrer noch viel zuwenig angenommen — wie ja überhaupt die „Wiederentdeckung“ Armeniens erst nach der Jahrhundertwende durch Wissenschaftler, Forscher, Historiker vollzogen wurde. Daß man im allgemeinen über das Land, seine Geschichte und sein Volk so wenig weiß, ist auf Lücken im Geschichts- und Religionsunterricht zurückzuführen, die man vielleicht als Folge der politischen Vergangenheit Europas erkennen kann.

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Armenien hat heute, nach einer wechselvollen, bewegten Geschichte, den Anschluß an seine alte Kultur wiedergefunden und erlebt eine Auferstehung, die in der Fachwelt große Aufmerksamkeit erregt hat. So brachte es in kurzer Zeit auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens international anerkannte Kapazitäten hervor, sei es nun in der Wissenschaft, der Forschung, der Technik, der Politik, der Architektur, der Musik, der Kunst überhaupt, des Sports. Um dieses Phänomen richtig werten zu können, muß man wenigstens einen kurzen Abriß der Vergangenheit kennen.

Armenien ist das älteste christliche Land der Welt. Sein Volk setzt sich aus der Urbevölkerung des Landes (Urartäer) und einem im 6. Jahrhundert vor Christi aus dem thrakischen Raum vorgedrungenen indogermanischen Stamm zusammen. — Bis zum Beginn unserer Zeitrechnung wurden die Territorien ausgedehnt, der Ackerbau, die handwerklichen Berufe, die Gewinnung und Förderung von Metallen, die Religion (ein heidnischer Vielgötterglaube) gefördert; und Großarmenien gegründet, das weite Teile Kleinasiens (der heutigen Türkei) umfaßte und sich bis in die jetzige Sowjetunion hinein erstreckte.

Spielball der Großmächte

Im 3. Jahrhundert wurde dieses Reich von den Sassaniden unterworfen, konnte sich jedoch mit römischer Hilfe wieder befreien und trat unter König Tiridates 300 nach Christi zum christlichen Glauben über. Der neue religiöse Gegensatz verschärfte die Kämpfe mit den persischen Sassa- niden. Im 4. Jahrhundert wurde Großarmenien zwischen Ostrom und Persien geteilt, im 7. Jahrhundert rangen Türken, dann die Mongolen und wieder die Perser um Armenien, das im Mittelalter eine wichtige Rolle bei den Kreuzzügen spielen sollte, indem es die europäischen Ritter im Kampfe gegen den heidnischen Feind wirksam unterstützte. Bis ins 19. Jahrhundert war Armenien dann von Ägyptern, Turkmenen, Persern und Türken umkämpft, belagert und in Besitz genommen — dann entriß Rußland sowohl Persien als auch der Türkei armenische Gebiete. Im türkisch verbliebenen Teil Armeniens verwirklichte die türkische Regierung als Fortsetzung ihrer Innenpolitik einen feindurchdachten Ausrottungsplan, dem mehr als eine Millionen Armenier — Männer, Frauen, Kinder und Greise — zum Opfer fielen, der von europäischen Mächten eigener Interessen wegen jedoch stillschweigend geduldet wurde.

Später überließ man, trotz mehrfacher Eingaben für die Bildung eines freien Armeniens, das westliche Gebiet als politischen Spielball abermals den Türken, während der Osten nach der Besetzung durch die Rote Armee 1920 in einen Rätestaat umgewandelt wurde. Nach einem Blick auf dieses Schicksal ist es um so interessanter, Armenien in seinem heutigen Status zu beobachten: es hat sich in unglaublich kurzer Zeit inneren Friedens (nach Stalin) unter der Sowjetunion zur Musterrepublik entwickelt, das Brot förmlich dem steinigen Boden, ja sogar dem Felsen abgerungen, aus dem Nichts und dem Chaos der Kriegswirren einen modernen Indu striestaat geschaffen, in dem Computer, Werkzeugmaschinen, Generatoren, Chemikalien, fahrbare Elektrostationen, Autos erzeugt werden, Fabriken gleichsam serienmäßig und in großzügigen Dimensionen entstehen, Universitäten und Hochschulen sich zu Leistungszentren mit beachtlichem Niveau entwickelt haben und mehr qualifizierte Wissenschaftler hervorbringen, als Armenien selbst aufnehmen kann.

Eine solche Aufwärtsbewegung auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, die aber noch lange nicht als abgeschlossen betrachtet werden kann, ist faszinierend — sie zeugt von der schöpferischen Energie, der Tatkraft, dem Eifer und der Lebensfähigkeit dieses Volkes.

In der Geschichte Armeniens kann man in jeder Friedensperiode, auch wenn sie noch so kurz ist, eine beachtliche Wiederbelebung der Bautätigkeit, der Kunst und der Pflege der Kultur feststellen, die immer wieder zu bewunderungswürdigen Höchstleistungen geführt hat. “Besonders auffallend ist, daß (Jie Armenier Unter keinen Umständen von ihrer Religion, Schrift, Sprache und Kultur losließen, sondern sie bis in unser Jahrhundert mit hartnäckiger Unnachgiebigkeit verteidigten. Das Christentum ist in diesem gläubigen Volk tief verwurzelt, ja es war für die Nation sogar schicksalshaft, denn sie sicherte die Selbständigkeit und Reinerhaltung der Armenier bis zum heutigen Tage.

Die Nationalkirche und ihre Musik

Die armenische christlich-apostolische Kirche blieb stets eng an die Grundgesetze des Glaubens gebunden und stellte weder weltliche Machtansprüche, noch unterstützte sie Interessen, die außerhalb der wirklichen Aufgaben der Kirche lagen — sie konzentrierte ihre Kraft auf die religiöse Betreuung des Volkes —, das unerschütterliche Bekenntnis der Armenier zu Ihrer Nationalkirche ist demnach eine verständliche Folge dieser so natürlichen Kirchenpolitik.

In den kirchlichen Gesängen und der liturgischen Musik widerspiegelt sich dieses Wesen. Das armenische Volk ist darüber hinaus aber auch unerhört musikbegabt und zeichnet sich von den es umgebenden ethnischen Volksgruppen durch seine verinnerlichte Musikauffassung und deren besondere Ausdruckskraft aus.

Die Musik der armenischen Nationalkirche weist ungeheuren Reichtum an Formen und Melodien auf — einen kleinen Einblick in dieses Musikschaffen gewährt eine eben in London erschienene Langspielplatte mit alten, armenischen Kirchenliedern, die noch heute während des Gottesdienstes gesungen werden. Die außergewöhnliche Schönheit der frommen, zärtlichen Melodien beeindruckt tief. Es ist zu erwarten, daß sich die Musikforschung und -Wissenschaft mehr und mehr mit armenischer Musik beschäftigen wird, einfach auch deshalb, weil sie als bedeutende Quelle abendländischer Musik erkannt werden muß — Kirchenmusik wie auch Volksmusik ruhen nicht auf den Grundlagen europäischer Tonarten, sondern auf einem Tetrachordensystem, und zwar in der Weise, daß in der Verkettung der Quarten immer der letzte Ton der vorausgehenden Quarte zum ersten der Folgenden wird.

Psalm und Rezitativ (Sprechgeang) sind bestimmten rhythmischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen, die Tonfolge ist streng geordnet und vorbestimmt. Charakteristisch sind auch Rhythmengruppen, die bis in kleinste Werte unterteilt sind und die reichen Melismen (Tonketten zwischen den Haupttönen), die orientalischen Einfluß zeigen. Trotz der Orientalismen in der armenischen Kirchenmusik klingt diese „europäisch“ und nähert sich sehr dem Belkanto-Ideal.

Die Erforschung aller dieser Fragen hat erst begonnen. Die Schwierigkeit des Aufgabengebietes liegt wohl auch darin, daß es unmöglich ist, die Musik ohne Text zu studieren, für den sie ja geschaffen wurde — Melodie und Worte bilden ein untrennbares Ganzes. Die armenische Sprache und Schrift mit ihrem eigenen Alphabet erfordert jedoch ein längeres und intensives Studium, da sie in ihrer Vielgliedrigkeit und der hochentwickelten Grammatik unbedingt zu den kultiviertesten Sprachen zu zählen ist. Weiter hat es sich bisher auch als unmöglich erwiesen, den Schlüssel zur Entzifferung der armenischen Notenschrift, wie sie etwa im 7., 8. und 9. Jahrhundert angewendet wurde, zu finden. Die Notation ist wohl mit der byzantinischen verwandt, in ihrem ganzen Aufbau jedoch viel komplizierter und formenreicher.

Trotzdem läßt sich der armenische Hymnengesang bis ins ausgehende

3. Jahrhundert zurückverfolgen. Über die frühen christlichen Gesänge findet’ ~mari schriftliche Unterlagen von Mesrop Maschtotz, der nicht nur das Alphabet 405 nach Christi, erfunden hatte, sondern auch die Malerei und Kirchenmusik förderte. Hymnen und Psalmen wurden in dieser Zeit gesammelt und einer Revision unterworfen.

Die erste Hochblüte erlebte der Kirchengesang im 7. Jahrhundert, in dem auch die erwähnte armenische Notenschrift weitgehend benutzt wurde und eine Bereicherung der kirchlichen Hymnen erfolgte. 500 Jahre später wurde ein zweiter Höhepunkt erreicht. Jene Hymnen, die noch heute in der Kirchenmusik einen wichtigen Platz einnehmen, erhielten ab dem 14. Jahrhundert jene Form, die sich durch mündliche Überlieferung bis zur Gegenwart erhalten hat.

Vom 15. Jahrhundert an geriet die Kenntnis der armenischen Notenschrift allmählich in Vergessenheit, die Gründe sind in der durch Kriege und erbitterte Freiheitskämpfe erschütterten Zeit, natürlich aber auch in der Schwierigkeit der Notation selbst zu suchen — die ja ein hohes Maß an Kenntnissen und musikalischer Bildung verlangte.

Im 18. Jahrhundert befaßte sich Sayat-Nova, der große armenische Volksdichter, Minnesänger und Mönch intensiv mit Kirchenmusik und schrieb auch viele Lieder und Melodien. Die Texte verfaßte er sowohl in armenischer als auch in gru sinischer und türkischer Sprache. Erst vor kurzem feierte man den 250. Geburtstag dieses Mannes, der 1795 von türkischem Militär ermordet worden war, als er sich geweigert hatte, den christlichen Glauben abzulegen.

Etwas später betrieb Hampartsum Limondjian (gestorben 1831) Nachforschungen und Studien über Kirchenmusik und bemühte sich um eine Revision der Notenschrift sowie der rhytmischen Zeichengebung. Seine Arbeiten wurden im gleichen Sinne von Musikern wie Utudjian, Eranien, Taschdjian weitergeführt. Als bekannten Kirchenmusiker des 19. Jahrhunderts muß man auch M. Ekmalian nennen, der vor allem Messen schrieb. In diesem Zeitraum wurden alte Melodien und Kirchen- gesänge in ihrer reinsten Form aufgezeichnet: das geschah in der armenischen Kolonie Kalkutta, deren Schule für Kirchenmusik als hervorragend galt und sich, dank der isolierten Lage, frei von Einflüssen hielt.

Die größte Bedeutung in der modernen Kirchenmusik aber kommt Komitas Keworkian zu, der im Etschmiazin studiert hatte. Er gab nicht allein Impulse für neue Studien und intensive Arbeiten an der Musik und der Notenschriften — sein besonderes Verdienst war die Sammlung von Volksweisen und Kirchenliedern aus allen Teilen Armeniens, das er aus diesem Grunde bereiste, wobei er auch entlegene, landschaftlich abgeschlossene Gebiete besuchte, in denen die Weisen lediglich mündlich weitergegeben worden waren.

In weiterer Folge harmonisierte er die Melodien und reinigte sie von fremden Einflüssen. Das war ein besonderes Verdienst, weil das armenische Volk bald darauf einer schrecklichen Vernichtung ausgesetzt war und viele der Lieder dadurch gänzlich in Vergessenheit geraten wären. — 1919 wurde Komtas Wahnsinnig — infolge des furchtbaren Leides seines Volkes während und nach dem ersten Weltkrieg, das er miterleben mußte.

Die geschichtliche Entwicklung der armenischen Messe und Kirchenmusik läßt sich an Hand verschiedener Niederschriften und Arbeiten von Etschmiazin (Armenien), St. Lazare (Venedig) und dem Mechitaristenkloster in Wien verfolgen, auch in den Arbeiten der Musikschulen Konstantinopels und Kalkuttas. Uber die Theorie des Rhythmus in der armenischen Liturgie berichtete P. Aubry in seinem „Le Rythme tonique dans la poėsie liturgique et dans le chant des ėglises chretiennes au Moyen-Age“, Paris 1903, und auch H. Hickmann schrieb darüber in seinem Buch „Armenische Musik“, das 1948 in Kairo erschien.

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