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Sie sind vernachlässigt und neigen zu Gewalt

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Wer kennt sie nicht, die Meldungen über Brutalität in der Jugendszene, Gewalt an Schulen? Es sind Folgen einer Vernachlässigung der Kinder in der Familie.

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Wer kennt sie nicht, die Meldungen über Brutalität in der Jugendszene, Gewalt an Schulen? Es sind Folgen einer Vernachlässigung der Kinder in der Familie.

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Bereits jeder dritte Erstkläßler unserer Schüler wird einer Untersuchung zufolge als „verhaltensgestört" beschrieben. Mangelnde Kontakt- und Gruppenfähigkeit, Konzentrationsstörungen, Lernverweigerung und erhöhtes Aggfessionspotential sind heute leider beim Großteil der Kinder festzustellen.

Auf Tagungen von Landesschul-psychologen wird von geringer Hemmschwelle, vermehrten Störungen der Persönlichkeitsstruktur und einer „zunehmend angespannten Schulsituation" gesprochen. Der Zustand an unseren Hauptschulen stellt mancherorts für Lehrer sogar eine Bedrohung dar. Aggressionshandlungen wie Anspucken, Drohen und die Mitnahme von Waffen sind heute keine Seltenheit mehr.

Was uns früher nur aus den US A zu Ohren kam, nämlich, daß sich manche Lehrer unbewaffnet gar nicht mehr ins Klassenzimmer wagen, das hat Europa längst erreicht: Wir hören ähnliches aus Deutschland, wir wissen aus Österreich, wie sehr die Zahl jener Lehrer steigt, die aus nervlichen beziehungsweise psychosomatischen Gründen um ihre Frühpensionierung einreichen, weil sie dem „Schulterror" nicht mehr gewachsen sind.

Man hat lange Zeit versucht, der Schule die Schuld für die Schwierigkeiten unserer Kinder zuzuschreiben. Die „größte Unternehmung Österreichs", wie Schule auch genannt wird, ist sicherlich überfordert, wenn sie bestehende Defizite bei Kindern ausgleichen und reparieren soll. Und mit solchen Defiziten kommt heute eben bereits jedes dritte Kind in die Unternehmung Schule.

Diese Defizite sind gewachsen, sie sind im wahrsten Sinne des Wortes „hausgemacht". Die Familie, als intime Einheit und als der Garant für Stabilität läßt die Kinder zusehends im Stich. Dauerhafte Partnerbeziehungen sowie kontinuierliche Eltern-Kind-Bindungen haben einer „Familie ä la carte" (Leopold Rosenmayr) Platz gemacht. In dieser Neuform der heutigen Familie wählt jedes Mitglied seine Lebensform selbst, wobei es seine persönliche Auffassung und Sucht von Familie verwirklicht sehen will. Vor allem aber will jedes Mitglied seine „Selbständigkeit" und Ansprüche verwirklicht sehen.

Drang nach Unabhängigkeit

Es ist eine Tatsache, daß der postmoderne Mensch vom Wunsch nach Unabhängigkeit geradezu besessen ist. Der Preis für die Erlangung dieser Selbständigkeit ist die Vernachlässigung der anderen und oft auch die Vernachlässigung der eigenen Person.

Kinder erleben so eine drastische Minimierung der Sozialkontakte. Dazu kommt, daß die Freiräume der Kinder auch außerhalb der Familie sehr zusammengeschrumpft sind: Schon lange gibt es den Spielraum Straße für Kinder nicht mehr. Das was als „Kinderspielplätze" bezeichnet wird, ist höchstens ein paar Quadratmeter vorpräparierte Fache, die Aggressionen wachsen läßt. Zum emotionalen Defizit kommt noch ein technisches: Eltern haben heute fast keine Zeit mehr (ja - nicht einmal für sich selbst!).

Wen wundert's, daß Verhaltensauffälligkeiten und psychosomatische Erkrankungen zunehmen?

Es ist fast die Regel, daß heute beide Elternteile berufstätig sind. Nicht nur der alleinerziehenden Mutter bleibt wenig Kraft für Zuwendung und Erziehung ihrer Kinder. Von allen Elternteilen wird heute ein Maximum an Zeit und Einsatz am Arbeitsplatz gefordert.

Die Geborgenheits- und Zuwendungsdefizite unserer Kinder können in einer Atmosphäre der Überlastung und Reizüberflutung nur größer werden. Schule kann gar nicht mehr ersetzen, was zu Hause an Sprach- und Hilflosigkeit entstanden ist.

Innerhalb der letzten 30 Jahre haben neue Technologien unsere Welt drastisch verändert. Wir haben vieles erreicht, wovon man einst nur geträumt hat. Wäre es nicht an der Zeit, unsere Kräfte und Fähigkeiten wieder in den menschlichen Bereich zu investieren?

Wenn Kinder heute erwiesenermaßen Opfer von familiärer Strukturschwäche geworden sind, so sollte man auch in diesem Bereich an Verbesserungen und Hilfestellungen denken. Jede Bemühung, Familien durch soziale Anerkennung, Entlastung, Beratung und Verständnis zu unterstützen, wird uns selbst wieder zugute kommen. Ansonsten könnte sich die bereits in der Kindheit geschwächte „conditio humana" später an uns selbst rächen und uns einmal selbst im Augenblick der eigenen Hilflosigkeit treffen.

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