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Sieg des „Sozialismus“

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Bei der Sitzung des Führungsgremiums der Bolschewistischen Partei am 23. Oktober 1917 in Petrograd plädierte der kurz vorher aus seinem finnischen Asyl zurückgekehrte Lenin für einen möglichst baldigen bewaffneten Aufstand gegen Alexander Fedo-rowitsch Kerenski und seine Provisorische Regierung. Diese repräsentierte die im September 1917 proklamierte demokratische Russische Republik. Lew Trotz-kij, inzwischen Leiter des Militärkomitees der mächtigen Petrograder Sowjets, arbeitete auf Lenins Ziel hin. Die Regierung begann jedoch, sich zur Wehr zu setzen. Und Lenin bestand darauf, den Putsch nicht zu verzögern.

In der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober ging das Handeln auf das Militärkomitee Trotzkijs über. Alle wichtigen Punkte Petrograds wurden von den Bolschewiken und ihren Verbündeten besetzt — ohne Kampf und Menschenopfer. Der Sturm auf das Winterpalais erfolgte am Spätabend des 25. Oktober (nach der ab 1918 eingeführten neuen Zeitrechnung am 7. November), als etwa um 21 Uhr der nahe bei der Nikolaj-Brücke auf der Newa liegende Kreuzer .Aurora“ einen einzigen Schuß abfeuerte.

Noch einen Tag vor dem für Rußland so schicksalhaften 7. November Heß Lenin in einem Brief seine Parteiführung wissen, daß jede Verzögerung des Aufstandes das Ende der Partei bedeute, man müsse der Kerenski-Regierung „den Rest geben“.

Das besorgte Trotzkij. Mit Waffengewalt wurde das Winterpalais, in dem sich die Provisorische Regierung verschanzt hatte, eingenommen. Der Widerstand war gleich Null. Die Regierung wurde verhaftet und der Sieg verkündet. Kerenski konnte aus dem belagerten Winterpalais rechtzeitig entkommen.

Etwa 30.000 Bewaffnete, Soldaten und Arbeiter, hatten am 7. November 1917 die Millionenstadt Petrograd ohne Schwierigkeiten in ihre Gewalt gebracht. Nur ein Bruchteil davon gehörte der Kommunistischen Partei an. Die anderen zählten zu verschiedenen Links-Parteien oder waren Anarchisten. Obwohl Lenin am 7. November Regierungschef wurde, hatte er vorläufig nur nominell die Macht inne. Die meisten Linksparteien verharrten in Opposition. Und auch manche Parteifreunde Lenins verhielten sich abwartend.

Lenin war voller Begeisterung. Ein Aufruf „an die Bürger Rußlands“ (siehe Seite 12) wurde verkündet. Und selbstredend wurde die Bildung der „Sowjetregierung“ bekanntgegeben, deren Ziel nun die Verwirklichung der „sozialistischen Revolution“ sei. Lenin rechnete damit, daß dieser „Sozialismus“ innerhalb von sechs Monaten in Rußland verwirklicht wäre. Wie er das bewerkstelligen wollte und was er unter Sozialismus verstand, blieb er zu beantworten schuldig.

Kerenski versuchte von Pskow aus, wo er General L. Kornilow um Hilfe gebeten und eine „Streitmacht“ von 700 Reitern erhalten hatte, einen Gegenangriff. Doch die Rotgardisten zerstreuten die Kosaken am 12. November. Kerenski mußte fliehen.

Rußland aber hatte seit dem 8. November eine neue Regierung. Die Kommunisten mußten lernen, umzudenken und vor allem zu regieren. Die von Lenin geforderte Diktatur des Proletariats bedeutete konkret die alleinige Macht der Kommunistischen (bolschewistischen) Partei.

Nach der Zerschlagung von Widerständen in Petrograd und Moskau konnte Lenins Partei die Herrschaft im Lande weiter ausdehnen. Die mächtige Eisenbahnergewerkschaft drängte jedoch auf Einberufung der Verfassunggebenden Versammlung, die noch von der Provisorischen Regierung im Frühjahr 1917 beschlossen worden war, und an der Lenin also nicht vorbei konnte.

Ende November wurden Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung abgehalten. Das Ergebnis - eigentlich die f reiesten Wahlen in der russischen Geschichte - war für die Kommunisten niederschmetternd. Die Sozialrevolutionäre Kerenskis konnten über 40 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, während die Kommunisten mit nur 25 Prozent Wählerstimmen auf den zweiten Platz verwiesen wurden. Damit war klar, daß die Wählerschaft keine rein kommunistische Regierung wünschte.

Die „Demontage der alten Staatsmaschinerie“ bewirkte Unordnung und Anarchie. Selbstjustiz, Raub, Mord und Totschlag gehörten zum Alltag in der „Hauptstadt der Revolution“. Das gesamte Rechtswesen einschließlich der Gerichtshöfe wurde per Dekret abgeschafft. Das Transportwesen ruhte. Der Winter stand vor der Tür, eine Hungersnot drohte.

Hauptproblem der Sowjetregierung war jedoch die Sache des Waffenstillstands an den Fronten. Am 15. Dezember wurde in Brest-Litowsk ein Waffenstillstandsvertrag mit der deutschen Heeresleitung unterzeichnet. Der Krieg war russischerseits beendet. Anfang Jänner 1918 wurde ein Dekret vorbereitet, das die Schaffung einer neuen Armee, der „Roten Arbeiter- und Bauern-Ar-mee“, verkündete. Sie sollte Schild und Säbel des russischen Proletariats werden. Lenin suchte verzweifelt neue Männer für die Armee und konferierte in dieser Angelegenheit sogar mit dem amerikanischen Oberst A. Robins, einem Vertreter der US-Mission in Petrograd. Er versuchte, amerikanische Ausbildner für die Rote Armee zu erhalten. Die Antwort war ablehnend. Die Gründe dafür kennen wir nicht.

Schon vorher begann der Kampf gegen die Konterrevolution. Lenin forderte seinen Parteifreund Felix Dzierzynski auf, „außerordentliche Maßnahmen“ gegen „alle“ zu ergreifen, die die Sowjetmacht in Taten oder Worten anzugreifen wagten. Dzierzynski stürzte sich in die Organisation einer neuen Institution. Die Tscheka, eine Vorgängerin des heutigen KGB, entstand. Sie kontrollierte in kürzester Zeit das gesamte öffentliche Leben Sowjetrußlands und wurde eine unentbehrliche Stütze des neuen Staates.

Die „Nationalisierung“ von Industrie, Bergbau, Großhandel und Banken begann Mitte Dezember 1917. Die Folgen blieben nicht aus. Da die Sowjets keine geeigneten Leute zur Führung der konfiszierten Unternehmen hatten, ging die Produktion beziehungsweise die Rentabilität der Betriebe rasch zurück. Die ohnehin vom dreijährigen Krieg und der Revolution geschwächte Wirtschaft verkraftete die ihr aufgezwungenen Maßnahmen nicht. Chaos und Korruption breiteten sich in den Städten aus.

Nach Auflösung der letzten bürgerlichen Partei, der sogenannten „Kadetten“ (konservative Demokraten), schritt Lenin an die Eliminierung der Verfassunggebenden Versammlung, die er für den Aufbau des Sozialismus für überflüssig hielt. Was nun—ab Mitte Jänner 1918 - folgte, waren strenge Maßnahmen in einem von allen Ecken und Enden bedrohten Land, dessen innere Lage sich täglich verschlechterte. Aktienkapital wurde konfisziert, die „Sozialisierung“ von Grund und Boden vorgenommen, Handelsflotte und Getreidespeicher wurden verstaatlicht.

Die Offensive deutscher und österreichisch-ungarischer Truppen am 18. Februar 1918 beendete die Hinhaltetaktik der russischen Friedens-Delegation unter Trotzkij und zwang die Sowjetregie-.Tung, die deutschen Forderungen bedingungslos anzunehmen. Der Friedensvertrag vom 3. März war ein schwerer Schlag für die Russen, die den Deutschen eine Million Quadratkilometer abtreten mußten. Aber Lenin hatte nun seine Atempause. Und den Frieden mit dem inneren und äußeren Feind. Im übrigen, so glaubte man, würde die kommende Weltrevolution alle Probleme lösen (siehe Seite 14). Jetzt konnte er sich voll und ganz den inneren Problemen Sowjetrußlands widmen und die Zeit nutzen, um seine — utopischen — Pläne zu verwirklichen.

Damit war der erste Abschnitt der nachrevolutionären Zeit Rußlands abgeschlossen. Die Probleme wuchsen zwar ins Enorme, man glaubte jedoch an den „roten Messias“ und an die baldige Verwirklichung des „Sozialismus“.

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