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Sieg ohne Jubel

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Einen haushohen Wahlerfolg verzeichnete am Sonntag die polnische Solidarnosc. Mit absoluter Mehrheit gewann sie die bisher freiesten Wahlen in Osteuropa gegen die „Hausherren -KP“.

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Einen haushohen Wahlerfolg verzeichnete am Sonntag die polnische Solidarnosc. Mit absoluter Mehrheit gewann sie die bisher freiesten Wahlen in Osteuropa gegen die „Hausherren -KP“.

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Woran selbst die Optimisten im Traum nicht gedacht hatten, trat ein: Alle htmdert Sitze in der zweiten Parlamentskammer, dem neugeschaffenen Senat, entfielen auf die Kandidaten, die Lech Walesa persönlich als das “Bürgerkomitee der Gewerkschaft“ ausgesucht und in den Wahlkampf geschickt hatte. Und in der ersten Kammer, dem traditionellen Sejm, scheint die Opposition ebenfalls alle Sitze eingenommen zu haben, die ihr zToge-

standen worden waren - “einge-räiunt“ von den Komm\misten, die sich bekanntlich bei der Einigting am runden Tisch auf nur “halb-freie“ Wahlen einließen.

General Wojciech Jaruzelski und Premier ACeczyslawKakowski wollten von den 460 Mandaten nur ein Drittel, genau 161 Sitze, “einem westlichen Wahlkampf-Prinzip“ unterwerfen, zwei Drittel sollten von vornherein der Kommunistischen Partei und ihr nahestehenden Gruppen vorbehalten bleiben. Die Klausel besagte nebenbei, daß jeder kommunistische Bewerber auf der Einheitsliste von mindestens der Hälfte der Wähler nicht ausdrück-Üch durchgestrichen“ werden darf; sonst sei seine Wahl, trotz Fehlena eines Gegenkandidaten, “anfechtbar“.

Doch die mutigen Polen “strichen“ auch noch von der Einheitsliste alles durch, was nach Kommunisten roch. Ein Vorgang, der beim Nachbarn DDR weiterhin als “staats-

feindlicher Akt“ verfolgt und nicht selten bestraft wird.

Der nicht unproblematische Nebeneffekt in Polen: Kein einziger aus dem Kreis der Reformer, weder Rakowski noch Parlamentspräsident Malinowski oder Landwirtschaftsminister Olesiak schafften vorerst den E inzug in den Sejm. Kein Wunder, daß Jugendminister Alek-sander Kwasniewski, ein renommierter Politiker, dem auch Oppositionelle wie Adam Michnik und Jacek Kuron Respekt zollen, in einer ersten Reaktion erklärte: Es bestünde nun die Gefahr, daß sowohl in der “Polnischen Vereinig-tenn Arbeiterpartei“(PVAP) als auch ümerhalb der Gewerkschaft Solidarität Gegner des “gesellschaftlichen Kompromisses“,sprich kommunistische Dogmatiker und militante Anti-Kommunisten, die Oberhand gewännen.

“Zeit der Freude, Zeit des Nachdenkens“ titelt denn auch Adam Michnik, Chefredakteur der Wahlzeitung von Solidarnosc, seinen Dienstag-Leitartikel. Der Jubel über den Wahlerfolg des Bürgerkomitees der freien Gewerkschaft ist un-überhörbar. Gleichzeitig mischen sich in Michniks Analyse aber sehr ernste Töne. Wie Lech Walesa warnt er vor Extremen: Die Polen - so folgert er aus dem Wahlergebnis - wollten keine Flügelkämpfe, sie wollten ein starkes Zentrum, eben die SoUdamosc. Jetzt ist die Zeit gekommen, Crespräche auch mit jenen Oppositionellen in Polen zu suchen, die den Weg der Kompromisse mit dem Regime bisher verweigert haben. Solidarität ist ja nicht die einzige Opposition im Land; wohl aber jene Kraft, die stark genug war, über eigene Schatten zu springen - zum Wohle Polens. Das Wahlergebnis wird wohl eine neue Phase der Demokratisierung in Polen einleiten. Es ist keine Zeit für großes Trixmiphgeheul.

So gesehen versteht sich heute Solidarnosc als Mitarbeiter an einem neuen Polen. Das bestätigen auch Solidamosc-Leute wie Bujak, Ge-remek iind Mazowiecki: Die neue Ära braucht Verantwortung. Und das heißt gegenwärtig Zusammenarbeit mit den Mächtigen-, wenn-

gleich - wie Geremek hinzufügt -„die Macht wissen muß, daß Solidarnosc eine größere politische Evolution erreichen will“.

Jetzt beginnt konkrete Reformarbeit. Daß die polnischen Wähler der kommunistischen Landesliste mit den Spitzenpolitikern eine Abfuhr erteilten, bedeutet ja nicht, daß die Menschen in Polen Reformgegner sind. Diese Entscheidimg war in erster Linie ein klares Nein zum kommunistischen System.

Für Polen - das gilt für die Regierung vrie für die Opposition - stellt sich die Frage nacn der Unterstüt-zimg, die das Land aus dem Westen zu bekommen hofft. Polen braucht finanzielle Hilfe, aber auch Hilfe zum Aufbau einer Privatwirtschaft

Angst vor Streiks

Die poUtische Richtung stimmt -davon sind die Solidamosc-Leute felsenfest überzeugt.

Angst hat man vor imkontrollier-ten Streiks und Unruhen im Land -hervorgerufen durch die triste Wirtschaftslage. Der Reformprozeß, sorgen sich viele, könnte dadurch enorm gestört werden. Solidarnosc ist ja mit der Wahlwerbung angetreten, daß nur dann alles besser wird, wenn sie gewählt wird.

Nur eine einigermaßen bemerkbare wirtschaftUche Verbesserung kann die Leute zvir Arbeit motivieren. Die geringe Wahlbeteihgung (nur 62,11 Prozent) deutet axif eine in Polen noch immer weitverbreitete Apathie (FURCHE 14/1988) hin.

Das Modell des friedlichen Wandels eines kommunistischen Systems, das Polen Ostevuropa vorgelegt hat, bedarf noch der Ergänzimg durch ein Wirtschaftskonzept, das greift. Apathie darf nicht der Name für eine neue polnische Opposition werden.

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