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Digital In Arbeit

Simplifikationsmaschine

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Die Vernunft demokratischer Entscheidungsfindung ging verloren, seitdem politische Entwürfe nicht mehr an ihren Folgen in der Wirklichkeit, sondern an ihren Erfolgen in den Massenmedien gemessen werden. Ich möchte diesen Verlust demokratischer Vernunft durch zwei Aspekte verdeutlichen: einerseits aus der Sicht des Parlaments und andererseits aus der Sicht des Wählers.

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, sagen Verfassungen - und Organe dieser Allgewalt sind die Parlamente. Aber gewaltiger noch ist das Fernsehen: Vor ihm arrangiert das Parlament Redner und Tagesordnung.

Für den Wähler stellt sich die Frage: Welchen Sinn haben freie und geheime Wahlen, wenn sich politische Meinungen durch fremdproduzierte Informationen bilden? Scheinbar selbstverständliche Voraussetzungen unserer demokratischen Verfassung wurden offensichtlich durch die Massenmedien fragwürdig.

Die bisherigen Diskussionen über Medienwirkung übersahen gänzlich die wichtige Tatsache, daß unterschiedliche Zukunftsentwürfe in politisch höchst bedenklicher Weise unterschiedlich geeignet zur Kommunikation sind.

Beispielsweise ist Theorie interessanter als Tradition, Transparenz interessanter als Privatheit, Verändern interessanter als Bewahren, Kritik interessanter als Verantworten.

Deshalb bevorzugen die Massenmedien zwangsläufig politische Gruppen, die Theorie, Transparenz, Veränderung und Kritik betreiben, und benachteiligen politische Gruppen, die Tradition, Privatheit, Bewahren und Verantwortung vertreten. Deshalb wirken die Massenmedien aus ihrer inneren Gesetzmäßigkeit heraus bereits politisch einseitig.

Im Zeitalter der modernen Massenmedien haben gute Weltbilder kaum mehr Chancen gegen leichtverständliche Weltbilder: Was über den Sender geht, müssen Millionen Empfänger ohne Rückfrage verstehen können.

Deshalb hat fast nur noch das Einfachste die Chance, ausgestrahlt zu werden. Simple Denkmodelle verdrängen differenzierende, Ideologien mit anspruchslosen Denkmodellen setzen sich durch.

Einst war die geistige Entwicklung durch immer bessere Unterscheidungen bestimmt - aber in unserer Zeit dominiert eine gigantische Simplifikationsmaschine. Die Bevorzugung der Simplifikationen trifft vor allem Menschen, die für komplexe Systeme verantwortlich sind.

So sind beispielsweise in Fernsehdiskussionen - in denen man meist nur wenige Minuten sprechen kann - simple Schlagworte wirkungsvoll abzusetzen, während eine differenzierende Darstellung komplexer Probleme unmöglich ist.

Die Zuschauer meinen dann leicht, die Schlagwortproduzenten hätten eine höhere Einsicht, die der Verantwortli-

che noch nicht gewonnen hat-sie merken oft nicht oder erst zu spät, wie irreführend diese leichten Schlagworte sind und wieviel Unheil sie anrichten ...

Die Einseitigkeit des Informationsflusses beim gegenwärtigen Medienbetrieb verindert Korrekturen der verfälschten Scheinwelt und belastet unser Zusammenleben.

Wer typische Publikationen aus den fünfziger Jahren mit gegenwärtigen vergleicht, der erkennt eine enorme Veränderung der Sprache und eine weitgehende Umwertung aller Werte, einen Niedergang der Theologie und Philosophie, die sich vielfach vom Zeitgeist korrumpieren ließen, und vor allem die explosive Zunahme der Informationsproduktion durch die Massenmedien - meist ohne Verantwortung für ihre Folgen.

Diese Verantwortungslosigkeit zeigte sich in der Bundesrepublik Deutschland besonders deutlich im

Jahre 1977 nach dem Mord an Hanns Martin Schleyer. Da schlichen sich viele unserer medienbeherrschenden Intellektuellen klammheimlich aus ihrer Verantwortung für die Stimulation eines anarchistischen Zeitgeistes hinweg.

Könnte ein Handwerker, ein Arzt oder ein Kaufmann von sich aus so un-kritisiert aus der Verantwortung hinwegschleichen? Sicher nicht: Menschen realer Verantwortung können sich eben nicht wegstehlen, sie müssen für die Folgen ihres Tuns einstehen.

So fragt man sich: Spaltet sich unsere Gesellschaft auf in zwei Klassen von Menschen -

• deren eine arbeitet und Verantwortung trägt und

• deren andere kritisiert und keine Verantwortung trägt?

Eines der erstaunlichsten Phänomene unserer Zeit ist die Ablösung von der Erfahrung, sei es nun die historische Erfahrung, sei es die naturwissenschaftliche Erfahrung. Hieran tragen manche Eigengesetzlichkeiten der Massenkommunikation Mitschuld.

Die Realität braucht ein Verständnis, das zwingend auf Erfahrung angewiesen ist und ihre Komplexität zur Kenntnis nimmt (auch indem man ohne theoretische Begründung vernünftig handelt). Aber die Informationsproduktion braucht ein Verständnis, das die Illusion des Verstandenhabens erzeugt -auch wenn sich dies immer wieder als Irrtum erweist.

So entfernt sich das Denken der Informationsproduzenten vom Denken der Problemloser - und so entsteht auch die Reduktionspublizistik, welche die Welt auf das hier und jetzt Erklärbare reduziert.

Ich halte die geistige Situation für grotesk: Da steuert eine Minderheit ohne reale Verantwortung die Meinungen - und die Mehrheit, die durch ihren Fleiß unseren Wohlstand begründet, duckt sich verwirrt und sprachlos unter diese Fernsteuerung.

Zwar denken die meisten bürgerlich - aber sie haben dabei ein schlechtes Gewissen, ein eingeredetes schlechtes Gewissen. Dieses zu überwinden, wäre der erste Schritt zu einem neuen bürgerlichen Selbstbewußtsein.

Diese Analyse des bekannten deutschen Sozialwissenschaftlers ist wohl auf deutsche Verhältnisse hin geschrieben und in „Epoche" 5/1980 erstmals publiziert worden, im Grundsätzlichen aber auch hierzulande bedenkens wert.

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