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Sind Frieden und Sicherheit wirklich unteilbar?

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Eine Reform überkommener militärischer Allianzen - wie beispielsweise der NATO - und damit zusammenhängender Strategien ist überfällig im post-1989-revolutionären Europa. Wie Curt Gasteyger, international anerkannter Sicherheitsexperte, in einem Aufsatz für das „Europa Archiv" (Nummer 17/1992), vor kurzem konstatierte, kommt diese aber entweder zu spät: den Umbruch in Osteuropa kann ein neues Sicherheitssystem nicht mehr meistern, oder zu früh - für neue Herausforderungen.

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Eine Reform überkommener militärischer Allianzen - wie beispielsweise der NATO - und damit zusammenhängender Strategien ist überfällig im post-1989-revolutionären Europa. Wie Curt Gasteyger, international anerkannter Sicherheitsexperte, in einem Aufsatz für das „Europa Archiv" (Nummer 17/1992), vor kurzem konstatierte, kommt diese aber entweder zu spät: den Umbruch in Osteuropa kann ein neues Sicherheitssystem nicht mehr meistern, oder zu früh - für neue Herausforderungen.

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Gasteyger sieht vor allem Schwierigkeiten in der Frage, um welches Europa es sich im Zusammenhang , mit den neuen sicherheitspolitischen Strukturen überhaupt handelt. Da sind vierzigjährige Bruchlinien verschwunden, längst zugeschüttet geglaubte wieder aufgebrochen - und zwar in nationaler, ethnischer, sozialer, politischer und religiöser Hinsicht: alles Elemente, die nicht nur für den „Jugoslawien"-Konflikt bestimmend, sondern auch aggressionsför-dernd im östlichsten Bereich der KSZE-Mitgliedstaaten sind (die Graphik zeigt nur einige Beispiele für Konfliktherde in dieser Großregion; die FURCHE hat schon mehrmals die Gefahrenträchtigkeit der mittelasiatischen Staaten ausführlich analysiert). Heute wurde in Europa Vielfältigkeit wieder freigesetzt; wer sollte Staaten ihre Suche nach Eigenständigkeit verwehren, wie anders, als über freiwillige regionale Zusammenschlüsse - zunächst auf wirtschaftlicher Basis - kann unteilbare Sicherheit in Vielfalt gewährleistet werden? Gasteyger ortet zunächst einmal eine „strategische Heimatlosigkeit" Ost-Mitteleuropas - und was in erster Linie für die postkommunistischen Reformstaaten gilt, kann auch von den Neutralen gesagt werden.

Allerdings - Peter Gosztony hat in seinem Beitrag bereits deutlich darauf hingewiesen - vermögen jene Strukturen, die bisher Sicherheit durch Drohung in Europa schufen, diese nicht mehr zu gewährleisten. Wem soll die NATO drohen? Der Warschauer Pakt existiert nicht mehr. Für neue Bedrohungen bestehen noch keine Strategien. Zudem werden jene Länder, die in die NATO drängen -Ungarn, Polen, CSFR - vertröstet: Der neugeschaffene, eher unverbindliche „Nordatlantische Kooperationsrat" (NACC) wird ihnen als sicherheitspolitische Spielwiese angeboten.

Wohl kein Ersatz für ein Sicherheitssystem. Gasteyger wörtlich: „Die Frage, was denn ,Gesamteuropa' sei, muß vorläufig offen bleiben. Das ist keine Katastrophe: Die Größe Europas bestimmt sich nicht oder jedenfalls nicht ausschließlich nach geographischen Kriterien. Aber sie wird problematisch, wo sie die Bildung wirksamer Institutionen erschwert, wenn nicht gar verhindert, oder wo die Trennlinie zu verschwimmen beginnt zwischen dem, wofür sich Europa noch politisch verantwortlich erklären kann oder muß, und dem, wo es dies nicht mehr tun kann. Ersteres trifft in bedenklicher Weise auf die auf nunmehr 51 oder 52 Staaten aufgeblähte KSZE zu, letzteres auf die weitverbreitete Unsicherheit westeuropäischer Institutionen darüber, ob und wieweit sie tatsächlich Verantwortung übernehmen sollen für das Geschehen in so krisenträchtigen Regionen wie Zentralasien oder dem Mittelmeer-Raum." Ein Aspekt, der hier kaum beachtet wird, betrifft wirtschaftliche Interessen Europas und deren Absicherung. Es stellt sich die Frage, wieweit Europa auf sich gestellt beispielsweise Rohstoffzufuhren sicherstellen kann und muß - ohne Hilfe der USA. Der Salzburger Politologe Klaus Mistl-berger bringt das in der „Österreichischen Zeitschrift für Politikwissenschaft" (Nummer 3/1992) auf folgenden Punkt: „Immer stärker in die Debatte kommt auch die anläßlich des Golfkrieges gewonnene Erkenntnis, daß vitale Interessen europäischer Staaten auch außerhalb des definierten NATO-Vertragsgebietes gefährdet sein können. Als größte Handelsmacht der Erde ist die EG auf gesicherte Rohstoffzufuhren und freie Handelswege angewiesen. Deren Sicherung, so das Argument, wird man nicht auf unabsehbare Zeit den USA überantworten können, was amerikanische Politiker ihren europäischen Bündnispartnern auch immer wieder zu verstehen geben."

Gasteyger meint, daß der gängige Sicherheitsbegriff zunächst Sicherheit vor Gewaltanwendung durch Dritte bedeute, heute aber durch Schutz vor wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Gefährdungen umfangreich erweitert worden sei. Fehlte gerade noch - könnte man jetzt überspitzt journalistisch formulieren -, daß sich zu den Blauhelmen der UNO für den militärischen Bedrohungsbereich und den geforderten Grünhelmen für den bedrohten Ökologiebereich Rothelme für den Sozial- und Schwarzhelme für den Wirtschaftsbereich gesellen. Hätten wir dann die perfekte Sicherheitsordnung?

Ein Zuviel an Forderungen an ein neues Sicherheitssystem ist für Gasteyger ein Grund zur Skepsis gegenüber der Verwirklichung. Europa leidet gemäß dem Sicherheitsexperten keineswegs an einem Mangel an bewährten Institutionen - aber allen hafte „das Odium an, Kinder des Kalten Krieges zu sein. Heute stehen sie unter dem Zwang, sich entweder aufzulösen oder zu reformieren. Das erstere haben die sowjetisch inspirierten im Osten getan, das letztere ist im Westen - mühsam genug - im Gange... Das Feld, auf dem sich Institutionen wie die KSZE, die NATO, die Westeuropäische Union und, zumindest im Anspruch, auch die Europäische Gemeinschaft um eine sicherheitspo-litische Rolle bemühen, ist nicht beliebig ausdehnbar - jedenfalls nicht dort, wo es um Aufgaben eher traditionellen Zuschnitts geht, also um Verteidigung, Konfliktregelung und -Verhütung, Abrüstung und deren Kontrolle. Ganz anders und viel schwieriger ist die Lage, wenn es um die .neuen' sicherheitspolitischen Gefährdungen geht."

Psychologisch nicht unproblematisch stellt sich für Gasteyger die Westlastigkeit aller Überlegungen zu einem europäischen Sicherheitssystem dar. „Eingefahrene, wenn auch reformbedürftige Institutionen auf der einen Seite stehen vielfach gegenläufigen Ambitionen in einem institutionell und strategisch ungesicherten Freiraum auf der anderen gegenüber. Eine weitgehend konfliktfreie Gemeinschaft im Westen grenzt an konfliktträchtige oder im schwierigen Reformprozeß befindliche Regionen im Osten. So wird verständlich, daß die Staaten Mittel- und Osteuropas und der GUS eine erste Zuflucht in den bewährten Institutionen des Westens suchen. Ihr Beitritt zum ,Nord-atlantischen Kooperationsrat" bietet ihnen sozusagen kostenlos Kontake, Informationen und bis zu einem gewissen Grade das Gefühl sicherheitspolitischer Solidarität. Ein Schutzschild für ihre eigenen Probleme ist er nicht."

Jagen wir mit der europäischen Sicherheitsordnung einem Phantom nach, mit dem wir kaum die Gespenster der Vergangenheit, die durch ihr Erscheinen Schaudern auslösen, vertreiben können? Gasteyger weist einen Weg, der die Schaffung von „Gefäßen" für das Ideal eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems vorsieht: „Jede Sicherheitsgemeinschaft ... wird fast zwangsläufig durch nichtmilitärische Maßnahmen - wie wirtschaftliche Assoziation oder Integration, Schiedsgerichtsbarkeit und friedenserhaltende Missionen - abgestützt werden." Der idealen Forderung steht jedoch eine nüchtern-realistische Sichtweise gegenüber, wie sie etwa Heinz Gärtner, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Österreichischen Institut für Internationale Politik (IIP) in Laxenburg bei Wien, Autor mehrerer Bücher zu Themen internationaler Sicherheitspolitik, in seinem neuesten Werk „Wird Europa sicherer? Zwischen kollektiver und nationaler Sicherheit" anhand konkreter Beispiele aus der jüngsten Geschichte herausfiltert. Frieden und Sicherheit, konstatiert Gärtner illusionslos, „sind teilbar". „Nicht jeder Staat hat dieselben Interessen, einen Krieg zu verhindern oder Aggression abzuwehren. Im Gegenteil, Staaten sind eher geneigt, bestimmte Konflikte zu ignorieren, weil sie für ihre Interessen irrelevant sind, während andere Konflikte ihre Position in der jeweiligen Machtkonstellation begünstigen können. Sicherheit ist meistens selektiv und selten kollektiv. Alle Pläne, Strukturen, Systeme, Architekturen oder Verträge, die nationale Interessen unberücksichtigt lassen, waren bisher zum Scheitern verurteilt. Ein System, das den einzelnen nationalen Interessen und jeweiligen speziellen Bedingungen der Nationalstaaten mehr Spielraum läßt, ist wahrscheinlich erfolgversprechender als eine Friedensordnung mit einem nahtlosen Netz von Verpflichtungen."

Damit enden wir bei der Frage nach der zentralen Grundlage für Stabilität und Sicherheit. Für Gärtner ist das die Staatlichkeit, die sich im Streben nach Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, Autonomie, Einheit, Dominanz und Hegemonie beziehungsweise Gleichgewicht manifestiert. „Friedenskonzepte, die die Kategorie der Staatlichkeit vernachlässigen, werden immer Basis für Unfrieden und Instabilität sein." Ein Satz, der Europas Zukunft entscheidend bestimmen wird.

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