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Sind Österreichs Rechtshüter blind?

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Österreichs Verfassungshüter sind außerstande, die Verfassung zu hüten: Diesen Eindruck muß man bekommen, wenn man die jüngste Entwicklung in der heimischen Verfassungsgerichtsbarkeit und das Verhalten des Bundespräsidenten in der Ausübung seiner Kompetenzen auf die Überlebens-Chancen der „Lex Zwentendorf hochrechnet. Obwohl kaum ein Gesetz zuvor sich so vollständig in der Grauzone zwischen Recht und Rechtswidrigkeit bewegte, werden unsere Verfassungshüter auch an diesem Gesetz vermutlich keinen Anstoß nehmen.

Die FURCHE hat bereits in zwei ausführlichen Artikeln die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes über die friedliche Nutzung der Kernenergie gestellt. Zuerst gaben wir einem von Karl Lengheimer (Verfassungsdienst der niederösterreichischen Landesregierung) verfaßten Gutachten Raum, in dem der Verfasser am Zwentendorf-Gesetzesentwurf schwere Mängel konstatiert, „die ihn -weithin verfassungswidrig erscheinen lassen”. Es folgte ein Artikel von Willi Wahlen, der die Frage stellte, ob der Bundespräsident bei der Anordnung der Volksabstimmung ein Prüfungsrecht besitze und bei dieser Gelegenheit seine Unterschrift für die Volksabstimmung versagen könne (Furche Nummer 29,30).

Inzwischen hat sich der Verfassungsgerichtshof (VfGH) mit der ersten gegen das Zwentendorf-Gesetz gerichteten Verfassungsbeschwerde zu befassen. Die Beschwerde stammt von der Vorsitzenden der Katastro-. phenhilfe österreichischer Frauen, Elisabeth Schmitz, und stützt sich auf die Verfassungsnovelle 1975, wonach sogenannte Individualanfechtungen von Gesetzen und Verordnungen (Anfechtungen durch Einzelpersonen) überhaupt erst möglich wurden.

Seit dieser Neuregelung (Art 140, Abs 1, B-VG) kann ein Gesetz wegen Verfassungswidrigkeit von jeder Person angefochten werden, „die unmittelbar durch diese Verfassungswidrigkeit in ihren Rechten verletzt zu sein behauptet, sofern das Gesetz ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines Bescheides für diese Person wirksam geworden ist”.

Im konkreten Fall wendet sich die Antragstellerin gegen das Zwentendorf-Gesetz als Maßnahme- und Individualgesetz, das dem Gleichheitsgrundsatz und dem Prinzip der Gewaltentrennung widerspreche, und behauptet unmittelbar durch diese Rechtswidrigkeit in ihrem „Recht auf Leben und Gesundheit” verletzt zu sein.

Realistisch gesehen dürfte aber die durch den Wiener Rechtsanwalt Ernst Zömlaib („In dem Augenblick, wo das Atomkraftwerk Zwentendorf in Betrieb geht, gibt es den ersten Toten - das ist der Rechtsstaat!”) vertretene Anfechtung nur geringe Chancen haben. Denn die erst 1975 neueingeführte Möglichkeit der Individualanfechtung wird vom Verfassungsgerichtshof, wie Univ.-Prof. Kurt Ringhofer nachzuweisen versucht hat, eher restriktiv gehandhabt.

Als Beispiel dafür wird in der Fachliteratur der Beschluß vom 17. März 1977 angeführt, worin es um eine Individualanfechtung gegen das Forstgesetz ging. Der Verfassungsgerichtshof hat diesen Antrag inhaltlich gar nicht erledigt, sondern einfach wegen feh lender Legitimation des Antragstellers zurückgewiesen. Begründung: Die bloße Behauptung der Verletzung eines verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes reiche nicht aus, der Eingriff in die Rechtssphäre müsse „unmittelbar durch das Gesetz selbst” erfolgen.

Abgesehen davon, dB nun ein in Wien lebender Bürger „unmittelbar durch das (Zwentendorf-)Gesetz selbst” in seinen Rechten verletzt werden kann, stellt sich die altbekannte Frage, welchen Schutz die Verfassung Österreichs überhaupt für Leben und Gesundheit biete. Wer sich das Verfassungs-Erkenntnis über die Fristenlösung genauer ansieht, wird die Antwort der Verfassungshüter einigermaßen abschätzen können: In österreichischen Verfassungsquellen (Bundesverfassung, Staatsgrundgesetz) steht von einem Recht auf Leben überhaupt nichts geschrieben. Allenfalls käme die in Österreich geltende Menschenrechtskonvention in Frage, in der es heißt: „Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt.”

Aber auch das durch die Menschenrechtskonvention geschützte Recht auf Leben ist nur gegenüber der staatlichen Ordnung als Recht durchsetzbar. Schon im Fristenlösungs-Er- kenntnis hat es geheißen, ein Recht auf Leben, das gegenüber Eingriffen von nichtstaatlicher Seite einen Schutz gewähre, sei nicht zu finden. Daß dieses von der Fachwelt reichlich umstrittene Argument neuerlich hervorgeholt wird, ist angesichts der auch als politisch kritisierten Spruchpraxis des VfGH nicht schwer zu erraten.

Sollte der VfGH aber auch jemals das Zwentendorf-Gesetz inhaltlich prüfen müssen, wird er sich hüten, die vom Nationalrat gefaßten Mehrheitsbeschlüsse in die verfassungsrechtliche Zangp zu nqhmen.Auch dafür gibt es Aussagen genug, die zum Fristenlö- sungs-Erkenntnis gefallen sind und auf das Zwentendorf-Gesetz analoge Anwendung finden können. Der jetzige Präsident des VfGH, Univ.-Prof. Erwin Melichar, ist der Meinung, die inhaltliche Gestaltung der durch das Parlament zu schaffenden Gesetze sei nur durch sehr wenige keineswegs zusammenhängende, viele Lücken offenlassende und sehr unbestimmte Normen beschränkt: „In diesem Rahmen Rechtspolitik zu betreiben, ist die legitime Aufgabe der Volksvertretung.” Im Klartext also: Im Zweifelsfalle hat die Mehrheit recht.

Andere ebenso angesehene Verfassungsrechtler widersprechen der Me- lichar-These, die aber derzeit von der Mehrheit der Mitglieder des VfGH geteilt wird. Die Grundrechtsdogmatik des VfGH sei in Wahrheit für eine inhaltliche Gesetzesprüfung untauglich, kritisiert etwa der Innsbrucker Rechtslehrer Peter Pernthaler. Die Stellung des VfGH werde gegenüber dem „politischen Gestaltungsspielraum” des Gesetzgebers immer unsicherer, die Verfassungsgerichtsbarkeit gerate langsam in die Funktion „eines zusätzlichen verfassungsrechtlichen Legitimationsorganes der einfachen Parlamentsmehrheit”, befand Pernthaler in Sachen Fristenlösung.

Auch Pernthalers Salzburger Kollege Wolfgang Waldstein stellt trocken fest: „Wozu im Parlament die Zweidrittelmehrheit erforderlich, aber nicht erreichbar ist, das wird im VfGH mit einfacher Mehrheit verfassungsrechtlich legitimiert.” (Juristische Blätter vom 6. November 1976)

Bleibt noch die Frage, wie sich der Bundespräsident verhalten wird. Nach der Verfassung ist er zur Beurkundung der Verfassungsmäßigkeit von Bundesgesetzen berufen. Die Beurkundung des Zwentendorf-Gesetzes ist aber erst nach der Volksabstimmung und nur im Falle einer Genehmigung durch das Volk vorgesehen.

Die Möglichkeit, ein Gesetz bereits bei Anordnung jener Volksabstimmung, der es unterzogen werden soll, zu prüfen, wird in der Präsidentschaftskanzlei sehr zurüchhaltend beurteilt: Schließlich lasse die Verfassung dem Bundespräsidenten hier keinen Spielraum (Art 46: „Der Bundespräsident ordnet die Volksab- stinünung.

Aber ąuęhjD|ej.dęr B&ųrkundy,pg /eines Gesetzes sind die Rechte des Bundespräsidenten gering: Er hat nur das verfassungsmäßige „Zustandekommen” der Gesetze zu beurkunden. Ob ein Parlamentsbeschluß auch inhaltlich einem Gesetz entspricht, hat den Bundespräsidenten nicht zu interessieren und hat ihn auch nie interessiert.

Womit sich abschließend die Frage stellt, ob auch der „Steirische Bauernkalender”, wenn er von der Mehrheit im Nationalrat beschlossen wird, nach Einhaltung aller Formalitäten durch die Unterschrift des Bundespräsidenten Gesetzeskraft erlangt…

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