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Sind wir der Opfer würdig?

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Eine Welt ist dahingeschieden, und die überlebende Welt gewährt der toten nicht einmal eine würdige Leichenfeier. Keine Messe und kein Kaddisch wird Österreich zugebilligt.“

Den österreichischen Juden und erbitterten Nazi-Gegner Joseph Roth bewegt Trauer und Empörung. Ein Zeugnis: So war es.

War es so? Die Generation der Enkel und Urenkel hat diesen Tod als Geburtsstunde des neuen Österreich erfahren, den Tod eines Staates mit millionenfachem Tod im Gefolge. Kain hat seinen Bruder Abel erschlagen. Was hast du getan? Ein knappes Drittel der österreichischen Bevölkerung verbindet heute noch unmittelbare Erinnerung mit jenen sieben Jahren, die im März 1938 von unabsehbarer Dimension waren. Diese Frauen und Männer haben durch ihr Verhalten Opfer gebracht und Opfer gefordert. Sind wir denn all dieser Opfer würdig?

Die unter militärischem Zwang erfolgte und völkerrechtswidrige Annexion Österreichs durch Hitler-Deutschland war ein „Staatsbegräbnis“ mit vielen Beteiligten und Ursachen.

Österreich wurde ein Opfer der Gewalt. Es wurde auch deshalb Opfer, weil die eigennationale Identität wie der Glaube an die Lebensfähigkeit gefehlt hat, weil Demokraten gefehlt haben. Die Abkehr von der parlamentarischen Demokratie hat die Widerstandsfähigkeit geschwächt, auch wenn der Ständestaat lange Zeit erfolgreich dem blutigen Nazi-Terror im Land die Stirn geboten hat.

Sind wir der Opfer würdig, wenn das böse Wort von der Demokratieverdrossenheit gedankenkrank die Runde macht? Wenn die parlamentarische Demokratie der Lächerlichkeit preisgegeben wird?

Diese Gemeinsamkeit hat es nicht gegeben, nur die Souveränität. Nach der Bereitschaft, österreichisches Blut im* Bürgerkrieg zu opfern, fehlte die Bereitschaft, „deutsches Blut“ dafür zu vergießen. Lieber braun als tot.

Sind wir der Opfer würdig, wenn wir überhaupt Zweifel aufkommen lassen, ob uns Demokratie und Souveränität verteidigungswert sind?

Daß der Gewaltakt der Märztage des Jahres 1938 ein beträchtliches Maß an Zustimmung gefunden hat, ist nicht nur wirtschaftlicher Not und irriger Hoffnung zuzuschreiben. Aber bevor ein einziger „Ja“-Stimmzettel in eine Abstimmungsurne gefallen ist, hat die internationale Staatengemeinschaft — allen Verpflichtungen zum Trotz - den Gewaltakt anerkannt. Eigenen Interessen wurde Österreich geopfert.

Sind wir der Opfer würdig, wenn wir unsere Interessen nur kleinlaut vortragen? Wenn wir nicht die Staaten dieser Welt herausfordern, Farbe zu bekennen, wenn Edgar Bronfman jetzt diese Republik um Geltung und Kredit bringen will?

Österreicher haben gejubelt und geweint, haben gelitten und gemordet, haben Menschen denunziert und versteckt, haben mit ihrem Antisemitismus, mit ihrer Judenfeindlichkeit und ihrem Judenhaß am barbarischen Mord an zwei Dritteln der europäischen Judenheit teü. Österreicher haben in deutscher Wehrmachtsuniform — die einen haben sie stolz getragen, die anderen unter Tränen - Krieg und Verheerung über andere Völker gebracht.

Sind wir der Opfer würdig, wenn wir für unsere Zeit und ihre Schmerzen, ihre Nöte und Verlegenheiten Schuldige suchen und festmachen wollen? Wenn wir Vorurteüe pflegen? Wenn wir uns am Leben versündigen?

Österreicher haben Widerstand geleistet unter Einsatz ihres Lebens. Sie haben unter Umständen gegen einen Terrorstaat revoltiert, die viele Worthelden unserer Tage schweigen ließen.

Sind wir der Opfer würdig, wenn wir es zulassen, daß alles nur Lebenslüge sein soll, wofür sie gekämpft haben? Ihr Österreich?

Gekämpft haben auch andere. Väter und Söhne fremder Nationen. Nicht aus eigener Kraft, sie haben uns vom Nationalsozialismus befreit, mit allen Schrecken des Krieges, auch mit Vergeltung und Unrecht.

Sind wir der Opfer würdig, wenn wir Menschen, die der Totalitarismus unterjocht, Unterstützung versagen? Wenn wir nicht bedingungslos für Recht und Gerechtigkeit als Voraussetzung zum Frieden eintreten?

Alle Opfer wurden für uns gebracht. Unsere niedergeschlagenen Augen spiegeln Trauer und Dankbarkeit. Und die Erinnerung an die österreichischen Opfer in den Konzentrationslagern, im Widerstand, als alliierte Soldaten, als Opfer der Euthanasie-Programme und des Bombenkrieges sollte dort sichtbaren Ausdruck finden, wo wir heute nur der Soldaten-Opfer dieser Zeit gedenken, Tafel neben Tafel. Damit in jeder Gemeinde und Gemeinschaft die österreichische Tragödie mahnend wach bleibt. Dann waren alle Opfer nicht umsonst.

Darum bitten wir heute. „Versöhnung geschieht durch Erinnerung und nicht durch Totschweigen“ (Erzbischof Karl Berg).

Der Tod von 97.000 Österreichern - darunter 65.000 Juden - in den Konzentrationslagern und Gefängnissen, der Tod von 20.000 Österreichern im Bombenkrieg, der Tod von 20.000 Euthanasie-Opfern und der Tod von 247.000 Österreichern in deutscher Wehrmachtsuniform darf nie vergessen werden.

Dafür haften wir, weil wir. für unser Gemeinwesen haften. Weil wir darin unsere Indentität finden. Und das österreichische Selbstverständnis finden müssen.

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