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Digital In Arbeit

Sinnverlust der Arbeit

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Ohne jeden Zweifel haben sich die Art der Arbeit, ihre äußeren Bedingungen, ihre Einbettung in das gesamte Leben grundlegend verändert, wenn man die moderne Industriegesellschaft mit der Zeit der Agrar- und Handwerksgesellschaft vergleicht. Darüber hinaus verändern die aktuellen Umstände unserer „Konsumgesellschaft” die Einstellung des arbeitenden Menschen zu einer Arbeitszeit und zu einer Freizeit.

Auch seine Einstellung zum Resultat seiner Arbeit und zu dem Sinn, den er in seiner Arbeit sieht, hat sich geändert. Sicherlich sollte man die Arbeit auf den Feldern oder in den Städten und Dörfern früherer Zeiten nicht idealisieren. Aber man sollte andererseits auch nicht ihre offensichtlichen Charakteristiken vergessen.

Zunächst stellte sich die Arbeit damals als eine evidente Notwendigkeit für praktisch jedermann dar. Man hatte vor Augen, wie alle anderen arbeiteten, um mit ihren Familien so recht und schlecht leben zu können. Hinzu kam, daß jede Arbeit ein konkretes und bekanntes Ziel hatte: eine gute Ernte, eine ansehnliche Viehherde, ein bestimmtes Objekt oder eine Dienstleistung - und dieses Ziel stand in offensichtlichem Zusammenhang mit der Menge und der Qualität der geleisteten Arbeit.

Wenn die Ernte, das Stück Vieh oder das hergestellte Werkstück verkauft wurden, dann war der eingeleitete Tauschzyklus mit Sinn erfüllt. Wer Getreide oder Käse verkaufte, wußte, daß er zur Ernährung aller beigetragen hatte. Wer ein Pferd gezüchtet hatte, leistete damit einen Dienst an seinem Nachbarn. Wer einen Tisch hergestellt hatte, wußte, daß daran eine bestimmte Familie ihre Mahlzeiten einnehmen würde.

Jeder einzelne hatte eine Funktion, leistete einen Dienst, wußte, daß er von Nutzen war.

Zwar war die Arbeit ermüdend und oft sehr hart. Man hätte sich mehr Zeit für das Ausruhen gewünscht. Aber die Arbeit war nicht eine Sache, die „einen daran hinderte, etwas anderes zu tun”. Denn „etwas anderes” gab es fast nicht.

Aufzuwachen hieß, an die Arbeit zu gehen. Für „Vergnügungen” oder „Ablenkungen” gab es weder einen Sinn noch einen Platz und zwar aus dem einfachen Grund, weil es sie im täglichen Leben praktisch nicht gab.

Von Zeit zu Zeit wurde die Arbeit durch ein Fest unterbrochen, aber das war so ziemlich alles. In den langen Wintermonaten änderte sich oft lediglich die Art der Arbeit. Gesund zu sein bedeutete, arbeiten zu können ...

All das hat sich in der Industriegesellschaft von heute verändert. Das Bewußtsein der Notwendigkeit der Arbeit ist weitgehend verschwunden. Die Menschen wachsen in Städten auf, wo die produktive Arbeit fast nicht mehr direkt zu sehen ist. Viele Kinder haben ihre Eltern noch nie in diesem Sinne arbeiten sehen.

Was es Uberall um sie herum gibt, das sind Dinge, die man verkaufen und kaufen kann. Dabei geht das Gefühl dafür verloren, daß für die Herstellung dieser Dinge Menschen gearbeitet und sich abgemüht haben. Die Waren erscheinen in gewissem Sinn wie Naturprodukte, die jedem zur Verfügung stehen, der die Mittel hat, sie zu kaufen. Es entsteht der Eindurck, man könne sehr gut leben, ohne zu arbeiten.

Und in der Tat sieht man ja auch Menschen, die nicht den Eindruck erwecken, tatsächlich Arbeit zu verrichten. Warum kann also nicht, wie es eine Studentin verlangte .Jeder das tun, was im Spaß macht?” Zu all dem kommt noch hinzu, das derjenige, der arbeitet und Dinge produziert, zu diesen Dingen nur eine sehr entfernte, nicht mehr wesentliche Beziehung hat.

Die Frustration, die aus der Arbeitsteilung, der Arbeit am Fließband entsteht, ist oft genug betont worden. Aber es gibt noch eine Feststellung allgemeiner Art: Man arbeitet heute nicht mehr, um eine bestimmte Sache, ein fest definiertes Objekt zu produzieren, sondern man arbeitet, um so schnell wie möglich so viel Geld wie möglich zu verdienen.

Die hergestellte Sache, das produzierte Objekt ist nur noch eine Übergangsform auf dem Weg zu diesem Geld. Diese Feststellung trifft genauso auf den Arbeiter zu wie auf seinen Arbeitgeber. Der eine wie der andere sind meistens bereit, ihre Tätigkeit zu verändern, etwas anderes herzustellen, wenn das mehr einbringen sollte.

Sicher: vom rein wirtschaftlichen Standpunkt aus ist eine Mobilität dieser Art vortrefflich: Deshalb fördert man sie durch eine Vielzahl von Maßnahmen. Aber man muß sich darüber im klaren sein, daß damit eine weitgehende Lockerung der Beziehungen zwischen dem produzierenden Menschen und dem produzierten Produkt verbunden ist.

Das fertige Produkt ist dann nicht mehr eine konkrete Realität, die Rechtfertigung und der Lohn der aufgewandten Mühe, etwas, was man in einer gewissen Weise „lieben” kann, sondern nur noch das Mittel, um einen Gewinn zu erzielen. Es wird so abstrakt wie das Geld selbst.

Man produziert heute Tuch? Nun gut, morgen produziert man Schallplatten oder etwas anderes. Nichts wesentliches hat sich geändert - oder aber eigentlich: gerade das Wesentliche hat sich geändert! Geändert hat sich nämlich die Beziehung der arbeitenden Hand oder des arbeitenden Verstandes zum eigentlichen Sinn und Zweck dieser Arbeit.

Durch Trennung der Arbeit von ihrem Produkt - oder doch mindestens der Gleichgültigkeit gegenüber diesem Produkt - geht aber auch der Sinn dafür verloren, daß mit dieser Arbeit ein Dienst geleistet wurde.

Das Gefühl, einen solchen spezifischen Dienst zu leisten, ist aber für die psychische Gesundheit jedes Menschen unerläßlich. Dank dieses Gefühls kann er daran glauben, auf der Welt am richtigen Platz zu sein, seinen Platz im Leben zu haben.

In einem Team oder in einer Gemeinschaft fühlt sich der einzelne deshalb wohl, weil er etwas tut, was für diese Gemeinschaft notwendig ist. Wäre er nicht da, dann entstünde eine Lücke. Unter diesem Aspekt kann selbst die Arbeit am Fließband eine gewisse Befriedigung hervorrufen, die dazu beiträgt, daß man das Leben erträglich findet.

Denn auch bei der Arbeit am Fließband vollbringt jeder einzelne Handgriffe, die für das Ganze notwendig sind, die also einen Sinn haben, der sofort erkennbar wird.

Wenn es sich nur noch darum handelt, daß Zeit gegen Geld verkauft wird - dann geht der Sinn der Arbeit verloren ebenso wie das Gefühl der Gemeinschaft und des eigenen Beitrags.

(Jeanne Kersch ist Professorin Tür Philosophie an der Universität Genf. Dieser Beitrag ist auszugsweise den IBM-Nachrichten entnommen)

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