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„Sklaven“ aus Lateinamerika?

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Die „22 armen Staaten Amerikas“ haben bei einer Tagung ihrer „Spe-zialkommission zu lateinamerikanischer Koordinierung“ (CECLA) gemeinsame Forderungen für die Dritte Weltwirtschaftskonferenz ausgearbeitet, die kürzlich in Santiago de Chile tagte. Ihr Hauptanliegen, bei der Neuordnung des Währungssystems mitzureden, findet in den USA ein positives Echo. Staatssekretär John B. Connally will den „Klub der Zehn“ durch eine „Gruppe der Zwanzig“ ersetzen, die dem Gouverneursrat des Weltwährungsfonds nachgebildet wäre, so daß Lateinamerika drei Sitze erhielte. Man hat auch stark beachtet, daß der französische Außenminister Maurice Schumann bei seinem kürzlichen Argentinienibesuch erklärte, seine Regierung sei nicht mit der „schwachen Haltung“ der EWG einverstanden, sondern trete für feste Rohstoffpreise und langfristige Abnahmeverträge ein.

Die lateinamerikanischen Staaten klagen mit Recht darüber, daß der wissenschaftlich-technologische Abstand zwischen ihnen und den Industrienationen ständig wächst. Sie weisen darauf hin, daß in Mexiko sieben Forscher auf 100.000 Bewohner kommen (gegen 500, beziehungsweise 600 in der UdSSR und den USA und 360 in der BRD), beklagen, daß die nordamerikanische Technologie nur für große Märkte paßt und die Fabrikationsgeheimnisse nur mit dem Auslandskapital zu haben seien. Die Lateinamerikaner werden im Mai eine Konferenz in Brasilia abhalten, um eine gemeinsame Strategie für den Transfer der Technologie zu erarbeiten. Ihre „Elite“ muß auswandern, weil sie zu Hause keine Chancen zur Forschung und zu deren Anwendung findet.

Psychologische Probleme

In diesem ganzen Fragenkomplex stellt die Errichtung des ersten Atommeilers — mit bundesrepublikanischer Entwicklungshilfe — in dem argentinischen Ort Atucha einen bahnbrechenden Fortschritt dar. Sie bildet wohl den anspruchsvollsten Fall der „Übertragung technologischer Kenntnisse“. Die „Central Nuc-lear de Atucha“ soll Mitte 1973 fertig sein, doch fürchtet man, daß sich Schwierigkeiten ergeben. In Atucha arbeiten derzeit etwa 30 Techniker, 20 Ingenieure und Atomwissenschaftler. 30 von ihnen sind nach Deutschland gefahren und bei Siemens ausgebildet worden. Aber sie drohen, das Werk zu verlassen. Die Zusage, „angemessene Gehälter“ zu zahlen, wird von der „Kommission für Atomenergie“ nicht gehalten. Techniker verdienen etwa 5000, Ingenieure etwa 7000 Schilling. Da sie entweder relativ isoliert leben oder zweimal am Tag den Weg nach Buenos Aires (120 km) zurücklegen müssen, ist ihre Unzufriedenheit um so begreiflicher, als noch dazu die Teuerung in Argentinien alarmiert (23 Prozent in drei Monaten). Wenn man bedenkt, daß es sich allerdings um den spektakulären Durchbruch zur Atomenergie in dem bildungsmäßig meistfortgeschrittenen Land Lateinamerikas und um eine Gruppe von nur 50 Spezialisten handelt, kann man sich vorstellen, welche Schwierigkeiten der „Transfer der Technologie“ bietet, soweit er nicht von den Auslandsgesellschaften selbständig vollzogen wird.

Aber auch sonst trifft man überall auf den Mangel an Organisationskraft. So ist Uruguay seit Jahren Kapitalhilfe zur Verfügung gestellt worden, die aber trotz Krise und Arbeitslosigkeit nicht abgerufen wird, weil man sich nicht über aussichtsreiche Projekte einigen kann.

Der Abgrund zwischen Industrie-und Entwicklungsländern ist aber auch aus psychologischen Gründen schwer zu überbrücken. Ein typisches Beispiel zeigt jetzt Venezuela. Dort gibt es bei 10 Millionen Einwohnern etwa 500.000 Arbeitslose. Die Regierung des christdemokratischen Präsidenten Rafael Caldera versucht, Gruppen von ihnen als Gastarbeiter nach Europa zu schicken. Dem trat ein prominenter Oppositioneller, Dr. Jovito Villalba (der 1952 zum Präsidenten gewählt, aber nicht an die Macht gelassen wurde und 1973 erneut kandidiert), entgegen. „Das fehlte noch zu unserer Erniedrigung“, sagte er, „jetzt sind wir nicht nur eine Kolonie, die Rohstoffe an die Metropolen liefert. Jetzt werden wir ihnen auch noch mit Sklaven aushelfen.“

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