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Sklaven der Zeitnot

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Es könnte harmlos verstanden werden, wenn man sagt: es ist eine moderne Krankheit, keine Zeit zu haben. Man sieht die Menschen hasten, man erhascht kaum eine Minute ihrer Zeit, um mit ihnen zu reden. Sind die Menschen fleißiger geworden, oder sind vielleicht die Aufgaben so turmhoch gewachsen, daß sie drängen und treiben — rastlos treiben und uns hasten lassen bis zur Erschöpfung?

Man sieht es den Gesichtern an: Die abweisende Verschlossenheit könnte sagen: Halt mich nicht auf, ich habe keine Zeit. Das könnte man aus ihren Gesichtern lesen, wenn — ja, wenn das Abweisende nicht auch das Lustlose wäre. Lustlos — warum?

Keine Zeit haben ist unendlich mehr als viel, überviel zu tun zu haben. Es ist die Krankheit der Bodenlosigkeit. Die Zeit, die wir jeden Tag haben und die sich als Gegenwart darbietet, ist der Boden, auf dem wir stehen, der Boden, auf dem wir gehen und handeln, auf dem wir denken, planen, träumen, uns erinnern, der Boden, auf dem unser Leben, das Leben als unser eigenes, wächst.

Wird dieser Boden entzogen, stürzt alles zusammen, was unser Leben ausmacht. Es mag vieles weitergehen, vielleicht sogar in einer erregten Eile: unser Leben ist es dann nicht mehr.

Um nicht weniger geht es, wenn wir finden, daß uns die Zeit abhanden gekommen ist. Es ist eine ernste Krankheit, eine Krankheit, die zum Tode führen kann. Was dann noch weiterläuft, vielleicht sogar mit bemerkenswerter Präzision noch funktioniert, sind dann Hülsen, die den Inhalt verloren haben.

Wie ist so etwas Schreckliches möglich? Wie kann — unbemerkt und undiagnostiziert von den Ärzten der Zeit - den Menschen ihre Zeit abhanden kommen, so daß sie weiterlaufen, obwohl sie mit der Zeit auch sie verloren haben? Es ist zu vermuten, daß es sich bei dieser Krankheit nicht um eine private Funktionsstörung handelt, sondern um eine Epidemie, die die Welt überzieht.

Es wird noch verwirrender, wenn wir bedenken, daß gerade die namhaftesten Ärzte der Zeit dieses Übel verschlimmert haben, weil sie fürchteten, die Menschen hätten zuwenig von dem Lebensstoff, der Zeit heißt. Sie haben in den letzten 200 Jahren die Zeit der Menschen — „Geschichte" genannt — ins allgemeine Bewußtsein gerückt.

Sie haben uns gesagt, daß die ständig fließende Zeit unser größter Reichtum sei, gerade, weil sie ständig weiterfließt. Sie ist — so lernten wir es allmählich sehen — der unerschöpfliche Quell spru-

delnden Wassers, der unversiegbar ist und die köstliche Gabe des Lebens uns unaufhörlich entgegensprudeln läßt. Da in der Zeit das menschliche Leben sich entfaltet — was wir heute noch nicht sind, hoffen wir morgen zu sein —, erschien die ständig sprudelnde, immer Neues bringende, alles ständig verändernde Zeit der große menschliche Reichtum schlechthin.

Der Fluß der Zeit, die pausenlose Veränderung, das Neuwerden von allem wurde gefeiert, in trunkener Begeisterung. Die Zeit ist unser ein und alles geworden. Wir hatten einen neuen Gott.

Und nun sind wir im Armenhaus der Zeit. Sie macht uns arm und krank und hält uns wie Sklaven. Wir haben keine Zeit mehr. Die Zeit hat uns. Was macht uns zeitkrank, so daß wir keine Freude mehr haben, weder an der Welt, noch am Beruf, noch an uns, noch an den Mitmenschen?

Es könnte sein, daß uns die Ärzte der Zeit verwirrt haben; daß sie die Zeit uns zum Dämon werden ließen, weil sie sie vergöttlicht haben.

Vielleicht hat der wahre Gott ganz anderes uns zu sagen und zu geben. Vielleicht gibt er uns die Gabe der Zeit. Und damit das Leben.. '

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