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Slums sind nicht schick…

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Die deutsche Bundesrepublik, der Wirtschaftswunder- und Wohlfahrtsstaat, hat seine Kehr- und Schattenseiten.’ Und das nicht erst seit der neuen Wirtschaftskrise. Wie der engagierte deutsche Schriftsteller Jürgen Roth in ęiriėr Dokumentation nachweist, leben mehr als 5 Millionen der iris ešramt 20,5 Millior nen Haushalte in Deutschland unter dem Exįštcnzmįnimūniį und zwar mit einem Durchschnittseinkommen von 500 Marie pro Monat!, ‘ • .

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Die deutsche Bundesrepublik, der Wirtschaftswunder- und Wohlfahrtsstaat, hat seine Kehr- und Schattenseiten.’ Und das nicht erst seit der neuen Wirtschaftskrise. Wie der engagierte deutsche Schriftsteller Jürgen Roth in ęiriėr Dokumentation nachweist, leben mehr als 5 Millionen der iris ešramt 20,5 Millior nen Haushalte in Deutschland unter dem Exįštcnzmįnimūniį und zwar mit einem Durchschnittseinkommen von 500 Marie pro Monat!, ‘ • .

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Rund 200.000 Bauern müssen mit weniger als 100 Mark Altersgeld im Monat auskommen, und 1,7 Millionen Frauen mit Renten unter 300 Mark im Monat. Es gibt 600.000 Obdachlose, und über 800.000 Familien, die in Baracken, Nissenhütten oder alten Kasernen leben. Zwischen fünf und zehn Prozent der Bevölkerung in den Armenvierteln sind noch Analphabeten — das sind drei bis fünf Prozent der Gesamtbevölkerung. In den isolierten Gebieten, wie etwa in den Dörfern im Hunsrück oder im Bayerischen Wald, können sogar bis zu 15 Prozent der Kinder aus den unteren Schichten weder lesen noch schreiben.

Daß es in den sauberen deutschen Städten mit ihrem gepflegten Wohlstandsimage nach wie vor richtige Slums gibt, hat der Bürger aus seinem Bewußtsein weitgehend verdrängt. Slums sind nicht schick…

Trotz des gepriesenen Sozialversicherungssystems und der Altersversorgung hausen mindestens drei bis vier Millionen Arme in Elendsvierteln. In der städtischen Wohnanlage Frauenholz von München zum Beispiel, in der Mühlbruchstraße des Frankfurter Stadtteils Sachsenhausen, in Cham im Bayerischen Wald und beim Güterbahnhof der eleganten Stadt Wiesbaden. Dort gibt es Ratten, verlauste Kinder, erhöhte Säuglingssterblichkeit und erhöhte Kriminalität.

Die Ursachen hiefür sind vielschichtig und komplex: Konzentration des Reichtums bei den Wenigen (im Zusammenhang damit die Monopolwirtschaft) und Verarmung der vielen. Steigende Lebenshaltungskosten (bei den Grundnahrungsmitteln im Jahr 1973 bis zu 40 Prozent, bei den Heizungskosten bis zu 200 Prozent), wachsende Inflation. Zu der daraus resultierenden materiellen Verelendung gesellt sich die psychische Verelendung als Folge der zunehmenden Technisierung und

Umweltverschmutzung. Daß die Industrialisierung nicht nur zum Segen, sondern auch zum (immer mehr beklagten) Fluch der Menschheit geworden ist, zeigt sich hier deutlich: Akkordhetze, Fließbandarbeit, Nacht- und Schichtarbeit, Gestank, Lärm und Hitze führen zu psychischen und psychosomatischen Erkrankungen und zu Verschleißkrankheiten. Chemische Stoffe verursachen Hauterkrankungen und Hautkrebs, Metallstaub ‘und Asbest schädigen Lungen und Atemwege, Gase, Dämpfe, Säuren oder Laugen den Lungen- und Magentrakt. Im Jahr 1971 wurden 27.200 Krankheitsfälle angezeigt, die den sogenannten Berufskrankheiten zuzuzählen sind. Das bedeutet gegenüber dem Vorjahr eine Zunahme von 4,8 Prozent, und damit den höchsten Krankheitsstand seit 1965. Wachsender Streß, Hektik und ungesunde Arbeitsbedingungen sind wohl auch die Ursache dafür, daß in den letzten 15 Jahren ganz allgemein die Lebenserwartung der Männer um drei Jahre gesunken ist; eine Folge der Arbeitshetze und Arbeitsintensivierung ebenso wie der zunehmenden Vernachlässigung des Gesundheits- und Unfallschutzgesetzes sind Betriebsunfälle, die in den letzten Jahren gewaltig angestiegen sind. Der technische Fortschritt wird also weniger zur Erleichterung der Arbeit im Betrieb benutzt als zur Produktionssteigerung.

Von dieser/ Entwicklung sind natürlich in erster Linie die ungelernten Arbeiter betroffen — das sind in der Bundesrepublik immerhin 27 Prozent der Arbeiter insgesamt. Ihre sozialen Bedingungen haben sich in den letzten 100 Jahren nur teilweise verändert. Denn auch, wenn die typischen Elendskrankheiten prozentual zurückgegangen sind, herrschen hier nach wie vor hohe

Säuglingssterblichkeit (heute sterben doppelt so viele Arbeiterkinder wie Angestellten- und Beamtenkinder im ersten Lebensjahr), eine geringe Lebenserwartung und hohe Invaliditätsraten. Wie in Untersuchungen festgestellt wurde, leiden etwa 37 Prozent aller Wechselschichtarbeiter an Verdauungsstörungen, 82 Prozent an vegetativen Störungen, 49 Prozent an Appetitlosigkeit und 62 Prozent unter ungenügendem Schlaf. Besonders hart getroffen sind dabei die Frauen. Sie haben meist keine beruflichen Qualifikationen (den 27 Prozent ungelernten Arbeitern stehen 70 Prozent ungelernte Arbeiterinnen gegenüber), werden unterbezahlt und außerdem in ihrer Doppelrolle: Haushalt, Kinder und Beruf, meist überfordert. Die Folge davon sind häufig zerrüttete Familienverhältnisse, die sich in erster Linie auf die Kinder auswir-

ken. Die meisten Heimkinder stammen demnach auch aus den untersten Schichten. Dazu kommen die häufig katastrophalen Wohnungsverhältnisse. Oft nur wenige 100 Meter entfernt von adretten Großstadtsiedlungein liegen die Ghettos der Armen, in denen bis zu zehn Personen in einem Raum von 15 Quadratmetern wohnen müssen, die sanitären Anlagen völlig unzureichend sind, Kinder zwischen Abfall und Mülltonnen spielen oder krank in kalten, nassen Räumen liegen, wo sie nicht gesunden können. Solche Elendsviertel gibt es beinahe in jeder Stadt Deutschlands. Damit die Konzentration nicht auf fällt, sind sie meist über das ganze Stadtgebiet verteilt. In Frankfurt am Main gibt es vier offiziell genehmigte Slumbauten, im Osten, im Westen, im Süden und im Norden, die von den Bewohnern mit den beziehungsreichen Namen „Klein-Chicago“, ,Mau-Mau“, „Old Harlem“ und

„Kamerun“ versehen wurden. Sozialwohnungen, die hier Abhilfe schaffen sollen, werden jedoch wegen der steigenden Grundstückspreise immer weniger gebaut. Die Mieten, so erklärte die Baugesellschaft „Neue Heimat“ im Herbst 1973, würden unter diesen Umständen derart ansteigen, daß sie von einkommensschwachen Schichten — für die diese Wohnungen ja gedacht sind i— nicht mehr bezahlt werden könnten.

Die Chancen einer guten Erziehung, einer Berufsausbildung, sind für die Kinder dieser Armen äußerst gering. Durchschnittlich werden sie um zwei Jahre später eingeschult als ihre Altersgenossen. Extreme psychische Belastungen und soziale Bedingungen wirken sich hemmend auf den Lernfortschritt aus. Sie stellen auch den höchsten Prozentsatz von Schulschwänzern und Sitzenbleibern.

Die meisten besuchen lediglich eine Volksschule. Nur 0,45 Prozent der Kinder aus Obdachlosenunterkünften gehen auf ein Gymnasium. Weshalb sich ihre Zukunft kaum von jener ihrer Eltern unterscheiden wird. Außerdem sind sie wesentlich anfälliger für Verbrechen. Wie das Statistische Jahrbuch von 1970 festgestellt hat, haben 96,2 Prozent der verurteilten Jugendlichen nur eine Volks- oder Sonderschule besucht. Was bedeutet, daß der weitaus größte Prozentsatz der kriminellen Jugendlichen eben aus der untersten Schicht stammt. Ebenso gibt es bei diesen Armen eine höhere Selbstmordrate.

Aber nicht nur die Arbeiter, auch die „alleinschaffenden Selbständigen“, die kleinen Handwerksmeister, Gaststättenbetriebe, Lebensmittelgeschäfte und Friseure müssen häufig um ihr Existenzminimum kämpfen. 50 Prozent aller Selbständigen verdienen weniger als 800 Mark monatlich. Katastrophal ist teilweise die Situation bei den Kleinbauern und den Bewohnern ländlicher Gegenden überhaupt. Kleinere und mittlere Betriebe können dort nicht mehr existieren. Dafür sanieren sich die Großbetriebe. Und diese Situation wird im Zuge der allgemeinen Energie- und Wirtschaftskrise keinesfalls besser, sondern eher schlechter werden. Nach dem Stand vom Jahreswechsel gibt es etwa 750.000 Arbeitslose in der Bundesrepublik. Rechnet man die Zahl der Kurzarbeiter dazu, so sind es bereits mehr als eine Million.

Der zur Selbstbesinnung und zum Konsumverzicht aufgerufene deutsche Bundesbürger wird daher ganz allgemein damit beginnen müssen, seinen Gürtel enger zu schnallen. Für die „vergessenen Armen“ dürfte das aber kaum noch möglich sein.

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