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Digital In Arbeit

So lockt man Schüler nicht

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Der enorme Medienkonsum der Kinder erschwert der Schule die Arbeit. Mit Reizen überfüttert, lassen sie sich durch die Information im Unterricht kaum aus der Reserve locken. Läßt sich die Attraktivität der Schule erhöhen?

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Der enorme Medienkonsum der Kinder erschwert der Schule die Arbeit. Mit Reizen überfüttert, lassen sie sich durch die Information im Unterricht kaum aus der Reserve locken. Läßt sich die Attraktivität der Schule erhöhen?

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Das Jahrhundert des Kindes neigt sich seinem Ende zu. Ist es nicht höchst an der Zeit, ein kritisches Resümee zu ziehen, inwiefern Ellen Keys Visionen von 1900 hierzulande Wirklichkeit geworden sind, das Leben von Kindern und Jugendlichen tatsächlich lebenswerter geworden ist?

Nun, was die Sicherheit der materiellen Existenzgrundlagen betrifft, so geht es der Mehrzahl der österreichischen Kinder und Jugendlichen zwar gut wie nie zuvor. Doch die Kehrseite der Medaille entlarvt die Idylle als trügerische Illusion. Dort sind, von der Gesellschaft nur allzu bereitwillig ignoriert, wachsende Jugendkriminalität, Vandalismus, Drogenkonsum, Alkoholmißbrauch zu finden -Kavaliersdelikte, moderne Formen archaischer Initiation oder aber Ergebnis einer fehlgeschlagenen, von falschen Göttern geleiteten Erziehung?

Anders gefragt: Treten wir, Eltern und Erzieher, der durch eine rapide Technologisierung aus den Angeln geratenen Welt pädagogisch gut gewappnet entgegen?

Wenn wir die Bedingungen, unter denen heute familiäre Erziehung stattfindet, betrachten, ist klar, daß allein aus zeitlichen Gründen die Betreuung des Nachwuchses vielfach vernachlässigt werden muß. Die Familienwelt ist gar zu oft weder heil noch heilig. Alleinerziehende, berufstätige Elternteile, vorwiegend Mütter, sind gesellschaftliche Realität. Andere Kinder bleiben bei der elterlichen Jagd nach dem großen Geld auf der Strecke. In die von den Eltern hinter-lassene Lücke stoßen die Medien vor und übernehmen Erziehungsfunktion. Vierstündiger täglicher Femsehgenuß ist bereits bei Kleinkindern keine Seltenheit, und oft genug setzen

Oberstufenschüler ihre Lehrer durch detaillierteste Kenntnis nicht nur des Spätabend-, sondern auch des Nachmittags- (sprich Kinder-)programmes in Erstaunen. Viele Schüler nennen denn auch Femsehen als ihr liebstes Hobby, Langeweile macht sich breit, wenn sie versuchsweise darauf verzichten. (Originalzitateines Schülers: „Ich hab' dann nicht gewußt, was ich machen soll.")

Erweitert wird das Unterhaltungsprogramm durch Computerspiele, Videos, Hörspielkassetten und Jugendzeitschriften. Bereitwillig übernehmen Jugendliche, sich selbst überlassen, die Werte, die diese Medien mehr oder weniger unausgesprochen propagieren. Serien- und Filmhelden fungieren als Vorbilder, deren Verhalten man im Umgang mit Freunden, Schulkollegen, Eltern und Lehrern nachahmt. Brutale Charaktere wie etwa Rambo (unter den Buben eines der beliebtesten Faschingskostüme) werden schon für die Jüngsten zu Idolen, was längerfristig gesehen gewiß kaum zu einem friedlicheren Dasein der Menschheit beitragen kann. Den Jugendlichen verschwimmt die Grenze zwischen Fernsehwelt und Lebensrealität, die Scheinwirklichkeit der Medien fließt in die erlebte Gegenwart ein. Seit einigen Jahren ist das italienische Wort „tutti", ein im Musikunterricht bei der Besprechung des Konzertes üblicher Terminus, auch bei Dreizehn-, Vierzehnjährigen eindeutig TV-besetzt.

Mord verliert an Schrecken

Im Hinterkopf spukt da eine mehr als schwachsinnige Fernsehsendung. Mord und Totschlag, ein weiteres Ingredienz des täglichen TV- oder Videovergnügens, verlieren, oftmals konsumiert, an Schrecken. So erklärte mir ein sonst durchaus vernünftiger Sechzehnjähriger, sollte er Zeuge eines Mordes werden, so könnte dieser in ihm keine stärkeren Empfindungen hervorrufen als ein Mord in einem Spielfilm. Eine solche Entwicklung, die letztlich zu einer völligen Desensibilisierung gegenüber den Leiden anderer führt, können wir uns allein aufgrund unserer heiklen glo-

balen Situation nicht leisten: Mehr Sensibilität ist angebracht, nicht mehr Brutalität.

Was aber vermag Kinder und Jugendliche vom Fernsehschirm, vom game-boy und so weiter wegzulok-ken? Hier wird die Schule, neben der Familie die einzige gesellschaftliche Institution, die dem Heranwachsenden ein wirkliches Interesse entgegenbringt, eine wichtige Aufgabe zu übernehmen haben. Um diese zu bewältigen, ist ein grundlegender Veränderungsprozeß, der weit über alle bisherigen Reformen hinausgeht, unumgänglich. Will man den Werten der heimlichen Miterzieher wirksam begegnen, so muß sich die Schule von ihrer Kopflastigkeit befreien und von purer Wissensvermittlung zur Hand-lungsbezogenheit finden.

Nicht nur Fakten vermitteln

Hier wird es zunächst einmal notwendig sein, die Lehrpläne gründlich zu entrümpeln, denn „Halbheit im Hundertfältigen" führt höchstens zu Oberflächlichkeit. Platz muß geschaffen werden für eine Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Lebensumwelt der Jugendlichen, das geschlossene System Schule muß sich öffnen für die Lebensrealität der Heranwachsenden. In solch einem Raum kann dann handlungsbezoge-ner Unterricht gedeihen, ein Unterricht, der Problemlösen und nicht das Vermitteln bloßer Fakten in den Vordergrund rückt.

Zu eigenem Handeln befähigt, findet dann der Jugendliche ein kreatives Ventil für ein aufgestautes, durch Medienkonsum nicht abzubauendes Aggressionspotential. Projektunterricht, der selbständigen Wissenserwerb ermöglicht, und überdies die engen Grenzen innerschulischen Lebens überwindet, weist den Weg in die richtige Richtung.

Bevor die Schule allerdings eine solche echt pädagogische Funktion erfüllen kann, muß auf politischer Ebene geklärt werden, welchen finanziellen Stellenwert man der Erziehung und Bildung der heranwachsenden Generation zuzugestehen bereit ist. Momentan wird die Schule immer

noch zum Almosenempfänger degradiert. Erst kürzlich hat der staatliche Sparefroh wieder zugeschlagen. Im heurigen Schuljahr wird das Angebot an Freifächern und Unverbindlichen Übungen an den Wiener AHS um 50 Prozent gekürzt. Dies ist insofern besonders tragisch, als gerade der Bereich schulischer Freizeitaktivitäten wichtige pädagogische Aufgaben verwirklicht, die vom Regelunterricht nur in sehr beschränktem Maße erfüllt werden können.

Schwerpunkte bildeten und bilden Sport sowie der musische Bereich. Daß sportliche Aktivität eine Möglichkeit darstellt, nicht nur Teamdenken zu schulen, sondern auch überschüssige Energien und Aggressionen abzubauen - und dies auf jeden Fall besser vermag als bloßer Sportkonsum vor dem Fernsehgerät - ist mittlerweile eine allgemein anerkannte Tatsache.

Auch die musikalische Erziehung (Freifach Instrumentalmusik), ohnehin ein Stiefkind im Musikland Österreich, verliert durch die Stundenkür-

zungen gerade im Wiener Raum eine entscheidende Stütze. Denn anders als in Oberösterreich, wo von 1.000 Kindern etwa 60 die Chance erhalten, in einer Musikschule einen Ausbildungsplatz zu ergattern, sind es in Wien nur zwei bis maximal drei. Ebenso in ihrer Existenz gefährdet sind Chor und Bühnenspiel, Fächer, die zweifelsohne zur Entfaltung kindlicher und jugendlicher Kreativität Wesentliches beitragen können.

Statt der Schule eine dringend notwendige grundlegende Umstrukturierung zu ermöglichen, wurde ihr somit eine Abmagerungskur verordnet, die es ihr noch schwieriger macht, berechtigten gesellschaftlichen Forderungen nach mehr Kreativität und Menschenbildung nachzukommen. Ein solch kurzsichtiges Vorgehen wird kaum dazu beitragen, die jugendliche Lebenssituation zu konsolidieren. Dies sei all jenen, die in Erziehungsfragen das Sagen haben, ins Stammbuch geschrieben.

Die Autorin unterrichtet am Akademischen Gymnasium Englisch und Musikerziehung.

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