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„Solche Lager gibt es nicht”

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Serbiens orthodoxe Bischöfe gaben kurz vor Weihnachten eine Erklärung ab, die viele als skandalöses Beispiel für kirchlichen Nationalismus ansehen. Die FURCHE dokumentiert den umstrittenen Text im Wortlaut:

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Serbiens orthodoxe Bischöfe gaben kurz vor Weihnachten eine Erklärung ab, die viele als skandalöses Beispiel für kirchlichen Nationalismus ansehen. Die FURCHE dokumentiert den umstrittenen Text im Wortlaut:

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Wir, die Hierarchen der serbischorthodoxen Kirche, zu unserer außerordentlichen Sitzung im Patriarchat versammelt, sind schockiert über die grauenhaften Anschuldigungen gegen die Serben in Bosnien und der Herzegowina, denen zufolge die Serben dort 40.000 muslimische Frauen in Lagern festhalten und sie ausnutzen und vergewaltigen.

Diese Art von Vorwürfen, der schändlichste Teil der Propaganda von einer der Seiten in dem unglücklichen Krieg in Bosnien und der Herzegowina, ist anscheinend von einigen Kreisen in Europa und der Welt für bare Münze genommen worden. Der Eindruck besteht, daß sie von einigen nicht nur akzeptiert, sondern sogar geschürt wurden, sehr wahrscheinlich mit dem Ziel der Verteufelung des serbischen Volkes und als Alibi und Rechtfertigung vor der internationalen Öffentlichkeit für mögliche spätere militärische Aktionen gegen die Serben von Bosnien und der Herzegowina und anderswo und für ihre Ausmerzung zum drittenmal in diesem Jahrhundert.

Wir, die Hierarchen der Kirche Christi, verurteilen als Männer, als Christen und als Diener des höchsten Gottes in dieser unmenschlichen Zeit jede gewalttätige Handlung, ganz gleich von wem und in wessen Namen sie begangen wurde. Wir empfinden das Unglück jedes Menschen als unser eigenes Unglück; denn jede Träne und jede körperliche oder seelische Wunde undjedeY Tropfen Menschenblutes ist die Träne, die Wunde und der Blutstropfen eines Bruders. Wir wissen, daß wir alle vordem Angesicht des lebendigen Gottes und dem ewigen Richter stehen müssen, wo kein Verbrechen und keine Unwahrheit gerechtfertigt werden. Wir wissen aber auch, daß es hier auf Erden keinen wahren Frieden unter den Menschen und Völkern ohne vollständige Gerechtigkeit und Wahrheit für alle und über alle geben kann. Niemand kann seine Zukunft auf Lügen und Ungerechtigkeit aufbauen.

Im Namen von Gottes Gerechtigkeit und aufgrund der Zeugnisse unserer Brüder, der Hierarchen aus Bosnien und der Herzegowina, und von anderen vertrauenswürdigen Zeugnissen, erklären wir in voller moralischer Verantwortung, daß solche Lager in der serbischen Republik von Bosnien und Herzegowina und im serbischen Krain weder existiert haben noch heute existieren. Diejenigen, die uns beschmutzen und unbegründet beschuldigen in dem Bestreben, eine ganze Nation moralisch anzuschwärzen, indem sie falsche Informationen zur Kriegspropaganda benutzen, sollten zumindest den konkreten Beweis, Ort oder Namen für solche ungeheuerlichen Vorwürfe erbringen.

Was mehr oder weniger auf allen Seiten im blutbefleckten Bosnien-Herzegowina geschieht, sind Dinge, die in jedem Krieg und besonders in einem Bürgerkrieg wie diesem geschehen. Diese Vorkommnisse sind umso tragischer, als dieser kriegerische Konflikt ausbrach, nachdem die Völker auf jugoslawischem Boden schon viele Jahre lang geistlich und moralisch von einer atheistischen Ideologie und einem totalitären System verwüstet wurden, unter denen die serbische Kirche am meisten gelitten hat und mit denen sie niemals und auch heute nichts gemeinsam hat.

Was die Opfer der Gewalt auf serbischer Seite anbelangt, so sind wir im Besitz von mehreren bestätigten Zeugenaussagen, denen zufolge Vergewaltigungen und gewalttätige Handlungen an einzelnen und Gruppen von Frauen und sogar jungen Mädchen begangen wurden. Am schrecklichsten für die moralische Verantwortung und das menschliche Gewissen derOpfer und von uns allen sind die vielen Fälle von serbischen Frauen, die als Folge dieser Gewalthandlungen schwanger geworden sind.

Für eine gerechte Lösung des bos-nisch-herzegowinischen Konflikts, damit alle wieder moralisch aufrecht dastehen können und die tragischen Folgen des Krieges geheilt werden können, ist ein sofortiges Ende aller Kriegshandlungen nötig. Angesichts dessen begrüßt und unterstützt die Heilige Bischofsversammlung die Zusammenkunft zwischen Seiner Heiligkeit, dem serbischen Patriarchen Kyr Pavle, und Seiner Eminenz Franje Kardinal Kuhari c in Genf sowie die jüngste Tagung von Vertretern der serbisch-orthodoxen Kirche, der römisch-katholischen Kirche und der islamischen Gemeinschaft in Zürich. Die Versammlung macht sich die von diesen beiden Treffen ausgesandten Appelle zu eigen und ruft alle kriegführenden Parteien im Namen Gottes dazu auf, sofort und ohne Zögern alle kriegerischen Aktionen einzustellen und damit gesunde Voraussetzungen für das Heilen der Folgen des Bürgerkrieges, für das Aussenden von humanitärer Hilfe an alle Seiten und für eine friedliche Lösung für die zwischen diesen Nationen bestehenden Probleme zu schaffen.

Anläßlich der bevorstehenden Weihnachtsferien richten wir einen Appell an alle Seiten, alle Gefangenen und zuerst Kinder und Frauen aus den Lagern freizulassen, damit sie die Freude der Geburt des Gottessohnes empfinden und ihre Menschenwürde und die Möglichkeit eines normalen Lebens wieder erhalten können.

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