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Solidarität neu fördern

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Hannes Androsch findet, Selbsthilferechtsformen sind veraltet. Eine solche Organisation - Raiffeisen -feiert demnächst ihr 100jähriges erfolgreiches Bestehen. Hat sie Zukunft?

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Hannes Androsch findet, Selbsthilferechtsformen sind veraltet. Eine solche Organisation - Raiffeisen -feiert demnächst ihr 100jähriges erfolgreiches Bestehen. Hat sie Zukunft?

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Hundert Jahre nach der Intuition von Raiffeisen steht seine Grundidee vor einem völlig neuen wirtschaftlichen, sozialen und ideologischen Kontext. Dieser Kontext entwickelt seine Eigengesetzlichkeit und beeinflußt scheinbar unentrinnbar sowohl die innere Struktur als auch den äußeren Handlungsraum bei modernen Großunternehmen und Institutionen, also auch des „Unternehmens Raiffeisen“.

Damit könnte man die Frage noch schärfer formulieren: Ist die Intuition Raiffeisens im Blick auf das Jahr 2000 nur mehr eine historische Reminiszenz oder hat sie trotz allem äußeren und inneren Wandel noch eine Aufgabe für die Zukunft?

Niemand hat heute die erschöpfende Antwort. Dafür ist die Dynamik unserer Gesellschaft zu rasant und die Kenntnis der bestimmenden Faktoren der Zukunft zu unbestimmt. Es müssen heute auch kleine Schritte gegangen werden. Eine gewisse Zielvorstellung ist aber unabdingbar.

Dazu einige bescheidene soziologische Hinweise und Impulse:

1. Trotz aller marktgerechten Rationalität wird sich Raiffeisen auch in Zukunft und gerade im Blick auf die Zukunft um den unmittelbaren Kontakt zu den Menschen bemühen müssen. Und das nicht zuerst zu den Menschen, die die eigene Macht vergrößern, sondern zu den Menschen, die Orientierung, Beratung und Hüf e brauchen. Gerade auch in wirtschaftlicher Hinsicht.

Dieses Bemühen um persönliche Kontakte wird um so notwendiger, je mehr die Anonymität der modernen Informatik die zwischenmenschlichen Begegnungen noch weiter reduzieren wird. Jede Zeit hat ihre spezifische soziale Not. Raiffeisen hat nicht gewartet, bis sie bittend zu ihm kam. Er hat sie aufgesucht. Auch unsere so gepriesene Wohlstandsgesellschaft hat krasse Fälle der Ratlosigkeit und Hilflosigkeit. Warum sollte eine Institution, die unter dem Gesetz der sozialen Hilfe angetreten ist, dies heute nicht mehr tun können? Wir wissen heute, daß Wirtschaften sehr viel mehr besagt als Rationalität. Glaubwürdigkeit und Vertrauen sind Faktoren, die nicht ausschließlich aus finanziellen Vorteilen erwachsen. Sind sie aber vorhanden, wirken sie sich auf lange Sicht gesehen auch sehr spürbar auf die wirtschaftliche Rationalität aus.

2. Eine Institution wie Raiffeisen wird sich immer wieder kritisch fragen müssen, wie sie mit dem Faktor Macht umgeht. Wer in unserer hochorganisierten Gesellschaft den Faktor Macht ignorierte, würde die eigene Zielsetzung verfehlen und in einer Utopie enden. Es gibt eine Eigengesetzlichkeit der Macht, aber es gibt auch eine Versuchung der Macht. Sie kann sich im Willen des Staates nach der Bevormundung der Gesellschaft auswirken, aber sie kann sich auch in den gesellschaftlichen Kräften und Institutionen selber ansiedeln. Die Versuchung der Macht sollte dort ihre deutliche Grenze finden, wo sie in Widerspruch zur eigenen Gesellschaftsvorstellung gerät, unter der man angetreten ist: einer Gesellschaft nämlich, die von einem Optimum an persönlicher Verantwortung und von einem Reichtum an gegliederter Selbständigkeit geprägt ist. Jede Verklumpung der Gesellschaft, auch im Bereich der Wirtschaft, wäre gegen das vom christlichen Sozialdenken so zentral vertretene Subsidiaritätsprinzip.

3. Damit hängt ein dritter Leitsatz eng zusammen. Wir sprechen in der Soziologie heute mehr denn je von der Bedeutung des gesellschaftlichen Mittelbaues, d. h. von der Vielzahl der gesellschaftlichen Gebilde, die zwischen den Individuen und dem Staat existieren und dem wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Tun der Menschen den notwendigen Raum der Freiheit, der Zugehörigkeit und der Beheimatung vermitteln. In einer hochorganisierten Gesellschaft kommt auch der . gesellschaftliche Mittelbau nicht um ein bestimmtes Ausmaß an Verfaßtheit und verwaltungstechnischen Hilfen herum. Auch nicht der Raiffeisenverband. Es kommt entscheidend darauf an, daß trotz aller organisativer Notwendigkeit den Mitgliedern immer wieder die Erfahrung der Zugehörigkeit und Mitverantwortung vermittelt wird.

Neuer sozialer Humus

4. Die Intuition Raiffeisens war nicht ausschließlich auf die eigenen Mitglieder reduziert Er wollte durch das Gesetz der solidarischen Selbsthilfe ein Leitbild für andere gesellschaftsstiftende Initiativen sein. Und das ganz besonders im ländlichen Raum. Wir stellen heute auch in unserer angeblich so atomisierten und anonymen Gesellschaft ein äußerst waches Interesse für lokale Gemeinschaften fest Dazu gehört all das, was an örtlichem Brauchtum wieder entdeckt wird, was in Festen und Feiern seinen Ausdruck findet und was in der Lösung konkreter sozialer Anliegen am Ort geschieht Hier entsteht ein reicher sozialer Humus, der wieder so etwas wie ein neues Verständnis für Solidarität auszulösen verspricht.

6. Bleibt noch die Frage nach der Möglichkeit eines Imperativs des Raiffeisen als grundlegend für seine Intuition bezeichnet hat: die Aufgabe der Wertbegründung und Wertvermittlung. Für Raiffeisen waren dies eindeutig die sittlich-religiösen Werte. Wir wissen heute nur zu gut, wie schwierig diese Aufgabe vor der Tatsache der heterogenen Ziele und Werte der eigenen Mitglieder und der Umwelt geworden ist. Trotzdem braucht - ich möchte sagen darf - diese Aufgabe von Raiffeisen nicht ausgeklammert werden.

Wertbegründung und Wertvermittlung müssen heute in Toleranz vermittelt werden.

Der Autor ist Professor an der päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Der Beitrag ist ein Auszug aus einem Referat, gehalten in Wien anläßlich der Feier „100 Jahre Landtagsbeschluß“ zur Gründung Raiffeisens in Niederösterreich.

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