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Solschenizyn ist nicht der einzige Sowjetautor!

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Alexander Kaempfe, einer der renommiertesten Übersetzer aus dem Russischen, hat Alexander Solschenizyns Roman „August Neunzehnhundertvierzehn“ ins Deutsche übersetzt. Solschenizyn bezeichnet das Buch als „Hauptvorhaben meines Lebens“.

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Alexander Kaempfe, einer der renommiertesten Übersetzer aus dem Russischen, hat Alexander Solschenizyns Roman „August Neunzehnhundertvierzehn“ ins Deutsche übersetzt. Solschenizyn bezeichnet das Buch als „Hauptvorhaben meines Lebens“.

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FURCHE: Herr Kaempfe, worin sehen Sie das Besondere an diesem Roman — im Gesamtwerk Solschenizyns?

KAEMPFE: Es ist ein historisches Buch. Es ist Solschenizyns erster historischer Roman, wobei die zeitliche Distanz etwa die gleiche ist wie bei Tolstoi und „Krieg und Frieden“, d. h. der Autor hat die Zeit, die er schildert, nicht mehr erlebt, dennoch war hier die Weichenstellung für seine und unsere Gegenwart. Sol- schenizyn bezeichnet das Buch als Knotenpunkt, als ersten von dreien. „Knotenpunkt“ bedeutet epochale Konstellation, d. h. modellartige Beschreibung der russischen Gesellschaft zum Zeitpunkt des Weltkriegsausbruchs. Im Vordergrund dieser Beschreibung steht das Kriegsgeschehen, nämlich die Schlacht an den masurischen Seen, die bekanntlich mit einer russischen Niederlage endete. Dadurch wird „August Neunzehnhundertvierzehn“ zu einem Buch über das deutsch-russische Verhältnis und, vielleicht, zu einem außenpolitischen Faktor.

FURCHE: Welchen Stellenwert messen Sie diesem Buch in der außenpolitischen Beziehung zwischen Rußland und Deutschland hei?

KAEMPFE: Gerade die historische Fragestellung könnte Kreise der deutschen Öffentlichkeit, die bisher nicht mit diesem Problem befaßt oder falsch orientiert waren, von der Notwendigkeit einer deutsch-sowjetischen Annäherung überzeugen. Ich halte es für möglich und sogar für wahrscheinlich, daß das Buch zu diesem Zeitpunkt, nämlich bereits im Herbst 1971, die Chancen für eine Ratifizierung der Ostverträge heben kann; soweit natürlich ideologische Phänomene, z. B. Bücher in hohen Auflagen, die Politik überhaupt zu beeinflussen vermögen. Solschenizyn ist im Westen gegen seinen Wülen bisher vielfach gegen sein Land und gegen seine Kollegen ausgespielt worden. Mit „August Neunzehnhundertvierzehn“ wird das nicht mehr so einfach sein.

FURCHE: Was meinen Sie damit, daß man Solschenizyn gegen sein Land ausgespielt hat?

KAEMPFE: Solschenizyn war Jahre hindurch der einzige sowjetische Gegenwartsautor, den man bei uns propagierte und publizierte. Das entspricht in keiner Weise der realen Situation der zeitgenössischen Sowjetliteratur. Es gibt gegenwärtig eine ganze Reihe hervorragender sowjetischer Autoren, vor allem in der Generation der Vierzigjährigen, deren Werke größtenteils legal erscheinen und die unserer Beachtung wert sind, sowohl als Künstler wie auch als Informanten über die gesellschaftliche und ideologische Situation in ihrem Land. Dabei ist zu bedenken, daß die Sowjetliteratur ein Massenmedium ist. Die deutschen Verleger dagegen sind seit Jahren mit wenigen rühmlichen Ausnahmen auf der Jagd nach dem Samisdat, der illegalen Sowjetliteratur. Das Ergebnis dieser Verlagspolitik und der entsprechenden Tätigkeit der Publikationsorgane ist eine immer schlimmer werdende Verzerrung der Proportionen und eine Desinformation der deutschen Öffentlichkeit, zu einem Zeitpunkt, da Information besonders not täte.

FURCHE: In der bisherigen Polemik um die Publikation von Solschenizyns „August Neunzehnhundertvierzehn“ wurde mehrfach die Frage nach dem Übersetzungstempo aufgeworfen. Wie ist Ihre Stellungnahme dazu?

KAEMPFE: Ich habe drei Monate und zehn Tage gebraucht, das ist selbst für ein so schwieriges Budi wie dieses völlig ausreichend. Es ist naiv, anzunehmen, daß die längste Übersetzungsdauer auch die förderlichste ist. Ich bin ein ziemlich erfahrener Übersetzer, ich habe viel und verschiedenes übersetzt, ich habe auch Solschenizyn übersetzt, ich habe auch Kriegsbücher von Konstantin Simonow übersetzt, Stil und Thema waren mir also vertraut. Ich habe mich allerdings in diesen drei Monaten und zehn Tagen auf nichts anderes konzentriert.

FURCHE: Hat sich Solschenizyns Stil im Vergleich zu seinen bisherigen Büchern gewandelt?

KAEMPFE: Solschenizyn steht weiterhin in der realistischen Ästhetik, er ist auch mit diesem Buch wieder ein Schüler und Nachfolger der klassischen russischen Prosa.

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