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Solsdienizyn darf es

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Solschenizyn darf es im Jahr 1974 der sogenannten freien Welt des Westens sagen.

Was während der Goldenen zwanziger Jahre in Berlin und Wien die Linksinteilektuellen mit dem Ordnungsruf: Hände weg von Sowjetrußland, unterdrückten, er darf es sagen. Was in den dreißiger Jahren ein heimtückischer Anschlag des Faschismus auf das Vaterland aller Werktätigen gewesen wäre, er darf es. Was nach dem Ribbentrop-Malotow-Abkommen von 1939 von Adolf Hitler und Leon Blum (POPU-LAIRE vom 23. August 1939) als „Zerstörung einer neuen Frie-denshoffnung“ angeprangert worden wäre, er darf es. Wofür deutsche Gefangene nach 1941 in US-Kriegsgefangenenlagern in Cla-boose gesperrt wurden, er darf es. Was nach 1945 als Äußerungen eines Neofaschismus oder Neonazismus abgestraft worden wäre, er darf es. Was in Österreich nach 1955 — die kurzen Intervalle des Aufstands in Ungarn 1956 und CSSR 1968 abgerechnet — als Schädigung des Neutralitätsstandpunktes verurteilt wurde, er darf es. Was anläßlich der fragwürdigen Ostabkommen des soziali-stisch-liberalistischen Regimes in Bonn als niederträchtige Beeinflussung der Entspannungspolitik gebrandmarkt worden wäre, er darf es. Was die österreichischen Linksintellektuellen in den Redaktionen und Studios der Massenmedien als Rückfall in einen unqualifiziert-emotionellen Anti-marxismus abgewertet haben, er darf es. Was in der Paulus-Gesellschaft ein Tabu war, über das nicht gesprochen werden durfte, er darf es.

Alexander Solschenizyn darf jetzt dem manipulierten Leser in der sogenannten freien Welt des Westens sagen, was auf 607 Seiten seines Buches „Archipel Gu-lag“ geschrieben steht. Denn augenblicklich paßt diese Aussage in den rhythmischen Output des News Management der sogenannten freien Welt des Westens: Zuerst Antikommunismus, dann An-ti-Antikommunismus, dann wieder Antikommunismus und in der nächsten Phase Anti-Antikom-munismus usw., usw.

Während das sozialistisch-libe-ralistische Kombinat in den USA, Großbritannien, Deutschland und andernorts die sogenannte freie Welt des Westens demontiert und die Kerenskys sich bereitstellen, tut es zur Abwechslung gut, wieder einmal einen kräftigen Schuß Antikommunismus in jenen Cocktail zu mischen, in dem in der sogenannten freien Welt des Westens EVERYTHING THAT FITS TO PRINT drinnen ist.

Nichts gegen Solschenizyn. Nur hätte unsereiner im Zusammenhang mit GULAG (= Hauptverwaltung der sogenannten Lager in der UdSSR) nicht von einem Archipel, was heißt: Gruppe von kleineren Inseln, gesprochen, sondern von großen Subkontinenten. Subkontinenten, die unter dem Kommandosystem des Kommunismus stehen. Und in denen GULAG kein Signet für Ausnahme ist. Regelfall als Realisierung, was Karl Marx anstatt des krankhaften Terrorismus früherer Autokraten definiert und vorgesehen hat. Nämlich politologisch instruierter Terror, abgestützt durch die Moral des Klassenkampfes und einer Diktatur des Proletariats, von der schon vor 70 Jahren Charles Peguy wissen wollte, „wer in Wirklichkeit jene Personen sein werden, die die Diktatur des Proletariats ausüben werden.“

Aber derzeit stellen solche Fragen nur Leitfossile von gestern, wie unsereiner eines ist. Denn im Großgulag der kommunistischen Subkontinente ist offenbar eine solche Frage gleich dümmlich, wie jene des einmal bei ihrer Liebschaft ertappten Comtesserls: Mama, was ist ein Leutnant.

Wie gesagt, nichts gegen Solschenizyn und nichts gegen andere Bestseller, über die schon die Übersetzer und die Korrektoren in den Verlagen der sogenannten freien Welt des Westens gebeugt sind. Und: Gott schütze euch, die ihr weiter im großen GULAG lebt.

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