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Sonderfall Vorarlberg?

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Das westlichste und bevölkerungsmäßig kleinste Bundesland hat seit über zwei Jahrzehnten den prozentual höchsten Ausländeranteil aller Bundesländer. Dennoch spielen Ausländerhaß und Fremdenfeindlichkeit kaum eine Rolle. Gibt es einen Vorarlberger Sonderfall?

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Das westlichste und bevölkerungsmäßig kleinste Bundesland hat seit über zwei Jahrzehnten den prozentual höchsten Ausländeranteil aller Bundesländer. Dennoch spielen Ausländerhaß und Fremdenfeindlichkeit kaum eine Rolle. Gibt es einen Vorarlberger Sonderfall?

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Die vom 30. September 1992 datierte Statistik der Landesregierung weist für Vorarlberg eine Wohnbevölkerung von knapp 350.000 Personen aus, davon sind 51 .OOOoder knapp 15 Prozent Ausländer. Die Türken stellen mit fast 22.000 und die Mitbürger aus dem ehemaligen Jugoslawien mit rund 19.000 das Hauptkontingent, gefolgt von den 4.700 deutschen und 1.100 Schweizer Staatsbürgern. Im Ländervergleich kommt nicht einmal das „überfüllte" Wien an die Vorarlberger Prozentsätze heran.

Die Anzahl der Flüchtlinge, größtenteils aus Bosnien-Herzegowina, wird aktuell auf rund 3.200 geschätzt, davon sind 2.150 in Bundesbetreuung, weitere 1.000 dürften ohne Bundesbetreuung bei Verwandten auf die Rückkehr in ihre vom Krieg heimgesuchte Heimat hoffen. Vorarlberg beherbergt mit seinem Vier-Prozent-Anteil an der österreichischen Bevölkerung etwa acht Prozent der Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten.

Kein Bundesland hat einen derartig hohen Gastarbeiteranteil: Ende September waren im Ländle 22.800 Ausländer beschäftigt, das sind 17 Prozent der Beschäftigten. In Wien liegt der Gastarbeiteranteil der Beschäftigen bei rund 13 Prozent und erreicht in keinem anderen Bundesland die Zehn-Prozent-Marke. Die Gastarbeiter sind auch - neben den über 50jäh-rigen - die Hauptbetroffenen des Konjunktureinbruchs. Ihr Anteil an den Arbeitslosen ist überproportional hoch. Trotz dieser „Rekordwerte" des Ausländeranteils blieb Vorarlberg von der unseligen Eruption der Fremdenfeindlichkeit bislang verschont. Wie läßt sich das erklären?

Es wäre „in den eigenen Sack gelogen", wollte man behaupten, in den Schulen, bei Wohnungen, am Arbeitsmarkt, bei der gesellschaftlichen Integration gäbe es im Ländle keine Probleme. Aber das Problembewußtsein scheint in der Politik, bei den Sozialpartnern, in den Betrieben, bei den Sicherheitsbehörden, in der Gesellschaft, in den Schulen, in Kirche und Pfarren gerade wegen des schon seit zwei Jahrzehnten überproportional hohen Gastarbeiteranteils früher erwacht und entwickelter zu sein als in anderen, insbesondere den östlichen Regionen Österreichs mit langhin geringer Ausländerproblematik. Vielleicht hat das kleine Ländle deshalb auch früher und mehr Erfahrung sammeln und ein Instrumentarium zur Bewältigung des stark emotional besetzten Problems entwickeln können.

Bei den Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft wuchs in Vorarlberg seit den siebziger Jahren ein Grundkonsens, daß man behutsam vorgehen müsse, um die Ausländerthematik möglichst nicht zu emotionalisieren und die Stimmung in der heimischen Bevölkerung nicht „kippen" zu lassen. Das heißt nicht, daß in der Praxis immer alle am gleichen Strick zogen und ziehen. Wenn IndustrieoderGastronomie in der Vergangenheit zusätzliche Ausländerkontingente beantragten, bremsten sie Arbeitsmarktverwaltung und Landesregierung möglichst ein. Die Crux: Die Kompetenzen (Aufenthalts- und Arbeitsbewilligungen, Kontingente) liegen beim Bund, das Land kann nur appellieren. Der aktuelle Konjunktureinbruch hat das Problem entschärft.

Ein weiterer Faktor: Von den derzeit über 3.200 Bosnien-Flüchtlingen sind nur rund 150 in „Großquartieren" untergebracht, nämlich in der ehemaligen Bundesheer-Kaserne „Galina" bei Nenzing. Über 3.000 leben in Privatquartieren, ein erheblicher Teil bei Verwandten und Freunden. Dadurch quellen zwar die ohnehin übervollen und vielfach immer noch miserablen Gastarbeiterquartiere buchstäblich über, aber die Flüchtlinge werden von der Bevölkerung kaum als zusätzliche Belastung oder Bedrohung empfunden.

Das Ausländerproblem war und ist in Vorarlberg faktisch ein Gastarbeiterproblem. Das hat Vorteile, auch psychologische: Die Gastarbeiter wurden gerufen, weil man sie braucht. Daß man damit eine Verantwortung für die Menschen übernahm - auch darüber gibt es im Land einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Industriebetriebe haben, nicht zuletzt auf sanften politischen Druck, Werkswohnungen erneuert oder Wohnungen „en bloc" angemietet oder gekauft, um die Arbeitserlaubnis für ausländische Mitarbeiter zu erhalten. Gemeinnützige Wohnbaugesellschaften vergeben einen kleinen Prozentsatz an Neuwohnungen an Gastarbeiter. Die seit 1986 erleichterte Familienzusammenführung hat allerdings Bemühungen, die Wohnsituation der Gastarbeiter zu verbessern, da und dort wieder zunichte gemacht.

Schulklassen mit 60 Prozent ausländischen Kindern sind auch im Ländle in Ballungsräumen keine Seltenheit. Die Aufstiegschancen von Kindern aus Gastarbeiterfamilien, auch wenn sie hier geboren und aufgewachsen sind, sind gering: Kulturelle, religiöse, sprachliche und familiäre Traditionen stehen einem Gymnasialbesuch vielfach im Weg.

Eines scheint aber sicher zu sein: Die türkischen und südslawischen Mitbürger bleiben uns für die nächsten Jahre, vielleicht Jahrzehnte „erhalten": Die Rückwanderung in die Heimatländer, wie sie noch bis Mitte der achtziger Jahre in größerem Stil geschah, ist aufgrund der wirtschaftlichen Situation in der Türkei und dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien völlig zum Erliegen gekommen. Der Zerfall Jugoslawiens spiegelt sich in Vorarlberg im Zerfall von zahlreichen „jugoslawischen" Sport- und Kulturvereinen, in Sprach-Losigkeit zwischen Serben, Kroaten und Moslems in den Betrieben, erfreulicherweise jedoch (noch) nicht in handfesten Konflikten wider.

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