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Sonderschule, adieu?

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In Kaisdorf bei Graz besuchen 18 Kinder die 1A der Volksschule. Zu ihnen gehören auch Erich und Stefan. Schon im Kindergarten waren die beiden Buben Spielgefährten. Noch vor einem Jahr schien es, als ob ihre Freundschaft mit dem Schuleintritt enden würde, denn Stefan ist geistig behindert. Erich besucht die Volksschule, Stefan die Sonderschule — das wäre der normale Weg gewesen. Daß die beiden nun in einer Klasse sitzen, verdanken sie dem Schulversuch, der an ihrer Schule durchgeführt wird.

Seit Herbst 1985 gibt es in Kaisdorf eine integrierte Klasse. Behinderte und nichtbehinderte Kinder werden in einer Klasse unterrichtet (siehe auch FURCHE 6/ 1986). Das hört sich revolutionär an, ist aber in Österreich kein Einzelfall mehr.

Angeregt durch Erfahrungen in Deutschland und Italien, begann in den letzten Jahren auch in Österreich eine Bewegung, die die Institution Sonderschule in Frage stellt und sich dafür einsetzt, behinderte, auch geistig behinderte, zusammen mit normalbegabten Kindern in der Volksschule zu unterrichten. Vor allem Eltern behinderter Kinder wollen nicht einsehen, daß ihre Kinder an manchen Orten zwar in einen normalen Kindergarten gehen durften, daß der Schuleintritt aber gleichbedeutend mit dem Besuch einer Sonderinstitution war. , Eltern- und Lehrerinitiativen führten schließlich zu drei Schulversuchen: Seit zwei Jahren gibt es eine integrierte Klasse in Oberwart im Burgenland, und seit Herbst 1985 finden Schulversuche an der schon genannten Volksschule bei Graz und in Tirol statt. Alle Schulversuche sind ähnlich aufgebaut. Zwei Lehrer, ein Volksschul- und ein Sonderschullehrer, unterrichten gemeinsam in einer Klasse, die auch einige behinderte Kinder (etwa 20 Prozent) umfaßt.

Normalbegabte Kinder werden nach dem Volksschullehrplan, behinderte nach dem Sonder-schullehrplan unterrichtet. Niedrige Schülerzahl (zwischen 15 und 20), verbale Beurteilung und verstärkte Mitarbeit der Eltern sind weitere Kennzeichen dieser Schulversuche.

Voraussetzung dafür ist, daß die Lehrer einander gut verstehen, wie das etwa in Kaisdorf der Fall ist. Volksschullehrerin Helga

Vukan und Sonderschullehrer Berti Nobis empfinden das gemeinsame Gespräch und die Vorbereitung des Unterrichts sogar als Bereicherung.

Rollstuhlfahrer, aber auch Kinder mit Gehörschädigung, die in die Regelschule aufgenommen werden, sind keine Seltenheit mehr. Eine Umfrage des Stadtschulrates ergab, daß in Wien etwa 200 behinderte Schüler eine Regelschule besuchen. Die Integration geistig Behinderter, die eine Veränderung des Regelschulwesens bedeuten würde, ist jedoch immer noch umstritten.

Dies zeigte sich auch bei einem Symposium, das Anfang April in Bad Tatzmannsdorf stattfand. 300 Teilnehmer diskutierten bei der Tagung mit dem Titel „Gemeinsam leben — Schule ohne Aussonderung“ die Möglichkeit einer schulischen Integration geistig behinderter Kinder.

Während der Pädagoge Jakob Muth von der Universität Bochum meinte, „Integration ist unteilbar“, dürfe also auch nicht vor geistiger Behinderung haltmachen, gab es auch Gegenstimmen, die eine „totale“ Integration ablehnten.

Besonders Lehrer und Direktoren an Sonderschulen stehen einem Ende dieser Institution mit gemischten Gefühlen gegenüber, da sie ihre bisherige Arbeit in Frage gestellt sehen. Von Sonderund Heilpädagogen ist immer wieder die Befürchtung zu hören, daß behinderte Kinder ohne Unterstützung durch das Elternhaus in integrierten Klassen weniger Chancen hätten als in Sonderschulen.

Ein Argument, das von Gegnern der Integration immer wieder vorgebracht wird, konnte der Ordinarius für angewandte Psychologie der Universität Wien, Paul Innerhofer, beim Symposium in Bad Tatzmannsdorf entkräften. Bei einer Untersuchung, die er an deutschsprachigen Schulen in Südtirol durchführte, zeigte sich, daß die Integration geistig Behinderter nicht das Ende der Leistungsschule bedeutet.

Repräsentative Stichproben in Wien, der Steiermark und in Südtirol ergaben, daß das Leistungsniveau in Südtirol höher ist als an österreichischen Schulen. Von einer Leistungsnivellierung und einer Verflachung könne daher nach Ansicht Innerhofers keine Rede sein.

In Italien ist die Aufnahme behinderter Kinder in Normalschulen seit 1977 gesetzlich verordnet. Völlig im Gegensatz dazu präsentiert sich die gesetzliche Situation in Österreich. Die bestehenden Schulversuche seien nur einem „gewissen Spielraum“, den die zuständigen Behörden hätten, zu verdanken, wurden vor allem aber aus „pädagogischem Interesse“ und infolge des „Drucks der Eltern und der Medien“ bewilligt.

Eine Veränderung des Schulsystems in Richtung einer „Schule ohne Aussonderung“ dürfte in absehbarer Zeit noch Utopie bleiben, stellt Heinz Gruber, Leiter der Abteilung Sonderschulwesen im Unterrichtsministerium fest.

Die Kinder in Oberwart und Kaisdorf bleiben von derlei Dis-“ kussionen unbeeindruckt. Sie leben Integration jeden Tag, und wundern sich nur darüber, daß fast jede Woche Besucher zum „Schulversuch-Schauen“ kommen.

Die Autorin studiert Germanistik und Publizistik in Wien.

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