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Sonderschulen erzeugen leicht Sonderlinge

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Die Abteilung für entwicklungsgestörte Kinder, von Univ.- Prof. Andreas Rett gegründet und geleitet, feierte vor kurzem ihr 25jähriges Bestehen. Der vorliegende Beitrag ist ein A uszug des Eröffnungsvortrages des im Anschluß an die Feier veranstalteten wissenschaftlichen Symposiums „Der Behinderte gestern, heute, morgen“.

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Die Abteilung für entwicklungsgestörte Kinder, von Univ.- Prof. Andreas Rett gegründet und geleitet, feierte vor kurzem ihr 25jähriges Bestehen. Der vorliegende Beitrag ist ein A uszug des Eröffnungsvortrages des im Anschluß an die Feier veranstalteten wissenschaftlichen Symposiums „Der Behinderte gestern, heute, morgen“.

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Die Erziehung zur Unabhängigkeit und zur Selbständigkeit ist für einen behinderten Jugendlichen, gleichviel ob er körperlich oder geistig behindert ist, eine unabdingbare Voraussetzung für die eigene Entfaltung im Rahmen seiner Möglichkeiten.

Es ist ja gar nicht so, wie man wohl immer denkt, daß die Integration der Behinderten in die Gesellschaft die Voraussetzung sei, sie auch an unserem Leben teilhaben zu lassen. Es ist umgekehrt: die Beteiligung der Behinderten an unserem Leben mit allen seinen Facetten wird erst zu einer Voraussetzung ihrer Integration in die Gesellschaft.

Das würde bedeuten, daß wir die Behinderten, zumindest aber den Teil von ihnen, der dazu irgendwie in der Lage ist - und dieser Anteil ist sicher wesentlich größer als wir heute denken - von kleinauf und von vornherein an unserem Leben und an unseren Aktivitäten, Schul- und Ausbildungsgängen wie auch an unseren Entscheidungen und öffentlichen Aktivitäten teilnehmen lassen.

Wir müssen nicht erst warten, bis die Behinderten in Sondereinrichtungen unter sich vielleicht lernen, sich unseren Normen anzupassen, um ihnen dann, wenn sie gewissermaßen das „Norma-

litätsabitur“ bestanden haben, sie in den Numerus clausus unserer Gesellschaft aufzunehmen.

Gerade dieses Hineinwachsen in die Gesellschaft ist aber bei uns Für die Behinderten durch die Institutionen schwer gemacht worden, die eigentlich zu ihrer Hilfe und Förderung geschaffen wurden.

Ausgehend von den traditionellen, meist kirchlichen Heil- und Pflegeeinrichtungen zur außerfamiliären Versorgung schwer geistig und körperlich behinderter Menschen, wie sie schon seit Jahrhunderten bestehen, entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten ein immer dichter werdendes Netz von Förde- rungs- und Sondereinrichtungen, vor allem für behinderte Kinder, die damit frühzeitig erreicht und gezielt gefördert werden sollen.

Diese Förderungseinrichtungen orientierten und gliederten sich nach der Art der jeweiligen Behinderung, gewissermaßen in Fortführung und Weiterdifferenzierung der schon ebenfalls traditionellen Spezialeinrichtung für blinde und taube Kinder.

So entwickelte sich ein differenziertes Sonderschulwesen, das über die traditionelle Hilfsschule hinausgeht und Sonderschulen für geistig behinderte, für körperbehinderte, für verhaltensgestörte, für sprachbehinderte, gehörschwache und sehschwache Kinder, für

Legastheniker umfaßt. Andere Spezialschulen zeichnen sich ab.

Leider wird dabei übersehen, daß dieses Prinzip, das ursprünglich sehr sinnvoll schien und sich inzwischen gewissermaßen mit berufsständigen Interessen und Verwaltungszwängen verselbständigt hat, von falschen Voraussetzungen ausgeht.

War es möglicherweise schon von vornherein ein fehlerhafter Ansatz, ein Kind, einen werdenden Menschen danach zu klassifizieren, was ihm fehlt, worin er behindert, worin er nicht so leistungsfähig ist wie die anderen, anstatt ihn danach zu beurteilen, was er denn trotz aller Behinderung vielleicht leisten kann?

Die Zusammenfassung aller behinderten Kinder in verschiedene, ihren unterschiedlichen Behinderungsformen entsprechenden, aber diesen doch nicht völlig genügenden Institutionen, bedeutet eine viel stärkere Aussonderung und Ausgrenzung dieser Kinder, als wenn sie ohne gezielte Förderung wie früher in ihren Familien aufwachsen würden.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich begrüße die frühzeitig einsetzende Förderungsmöglichkeit für behinderte Kinder und halte sie für eine unabdingbare Voraussetzung für alle

Integrationsbemühungen. Ich halte es aber für wichtig, daß wir die Nachteile, vor allem die Übertreibungen unseres Hilfssystems erkennen, um entsprechend gegensteuern zu können.

Je intensiver die Förderung ist, desto mehr „rarefiziert“ sich der regelmäßige Kontakt mit den gesunden Altersgenossen und Erwachsenen. Dies ist nicht nur ein Mangel für die Behinderten, sondern ebensosehr ein Mangel für’ die gesunden Kinder, die sehr frühzeitig von ihren behinderten Altersgenossen getrennt werden und mit ihnen kaum mehr Kontakt pflegen können.

Eine Möglichkeit der Abhilfe und damit auch eine Möglichkeit zur Verbesserung der Integration Behinderter in unserer Gesellschaft könnte ich darin sehen, daß bei jedem behinderten Kind zunächst die Frage gestellt wird, in welcher normalen pädagogischen Institution, sei es Kindergarten, sei es Grundschule, Hauptschule oder später auch das Gymnasium, das betreffende behinderte Kind mit flankierender Hilfe teilnehmen kann.

Das heißt, daß ein gut begabtes, aber schwer körperbehindertes Kind nicht allein deswegen auf das einzige, auf seine Behinderung eingerichtete Internat verwiesen wird, weil es die Treppen im Gymnasium seiner Heimatstadt und den Schulweg dorthin nicht allein bewältigen kann.

Diese Hilfe müßte ihm auch dort mit geringem organisatorischen Aufwand zuteil werden können. Dies heißt auch’, daß ein geistig behindertes Kind, das aber über eine gute Musikalität verfügt, seinen Musikunterricht zusammen mit gesunden Kindern bekommen können müßte.

Das heißt darüber hinaus, daß für jedes einzelne behinderte Kind die individuellen Möglichkeiten der örtlichen Schulen wie auch des Elternhauses ausgenutzt werden und daß man schematische Lösungen einer generellen Organisation nach Möglichkeit vermeidet.

Das kann auch nicht bedeuten, daß man wahllos Kinder ohne Rücksicht auf ihre Begabung und Fähigkeit einerseits und ihre Behinderung und Schwäche andererseits gemeinsam unterrichtet, denn wir werden weiterhin unterschiedlicher Lernfähigkeit und unterschiedlicher Leistungsfähigkeit in den einzelnen Bereichen auch mit unterschiedlichen Anforderungen und unterschiedlichen Lehrmethoden helfend und fördernd zur Seite stehen.

Es bedeutet aber, daß speziell für bestimmte Behinderungsformen ausgebildete Lehrer nicht nur in ihren Spezialschulklassen warten, bis die Kinder zu ihnen gebracht werden, sondern daß diese auch Kinder mit entsprechender Behinderung in den Normalschulen oder gar zuhause aufsuchen, um ihnen in zusätzlichem oder alternativem Unterricht die entsprechenden Hilfen zu vermitteln.

Es bedeutet aber auch, daß man nicht jede Behinderung von vornherein zum Anlaß nimmt, ein Kind von seinen Altersgenossen zu trennen und Spezialeinrichtungen zuzuführen.

Dort aber, wo die Sonderbeschulung unumgänglich ist, sollten Möglichkeiten wahrgenommen werden, außerhalb- des eigentlichen Unterrichtes Möglichkeiten der Begegnung sich auszudenken, anzubieten und zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen.

Wir sind dabei, das Leben der Kinder und Jugendlichen nur noch unter schulischen Gesichtspunkten zu sehen und eine Trennung in der Schule bedeutet auf weite Strecken hin auch eine Trennung fürs Leben, so als ob die Schule das Leben sei, anstatt daß wir das Leben zur Schule machen.

Das Entscheidende scheint mir deswegen zu sein, daß behinderte und gesunde Kinder so oft und so lange wie möglich miteinander Kontakt halten sollten, nicht nur damit die Behinderten, soweit sįe dazu in der Lage sind, von den Gesunden lernen, sondern vor. allem auch damit die gesunden Kinder frühzeitig Kontakt mit den behinderten Kindern pflegen und so frühzeitig erfahren können, daß Behinderung eine Form des Menschseins darstellt.

Die Integration der Behinderten in die Gesellschaft ist aussichtslos, wenn sie erst nach Abschluß der Sonderschulbildung begonnen wird, sie muß bereits im Kindergarten ihren Anfang nehmen.

Der Autor ist ärztlicher Direktor der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Tübingen.

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