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Sorgen mit der größeren Freiheit

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Ethos im Film? Während der junge österreichische Film in Resignation und in Spielereien versinkt, wird im östlichen Nachbarland die Wirklichkeit angepackt. Im „kleinen“ Film.

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Ethos im Film? Während der junge österreichische Film in Resignation und in Spielereien versinkt, wird im östlichen Nachbarland die Wirklichkeit angepackt. Im „kleinen“ Film.

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Die Freiheit hat ihren Preis. Sie kann hart und anstrengend sein. Billig ist sie nicht zu haben. Das spüren die Ungarn heute oft recht ernüchternd. Die Woche des ungarischen Spielfilms, die alljährlich eine Ubersicht der Produktion des vergangenen Jahres gibt, machte das mehrfach bewußt.

Die Filmleute selbst sind zu großer Sparsamkeit gezwungen und

müssen auch an Einspielergebnisse denken. Der „kleine“ Film herrscht vor, der möglichst in der Gegenwart und nicht zu weit von Budapest spielt, um Reise- und Dekorationskosten zu sparen.

Diesmal zeigten überwiegend junge Filmemacher ihre Produkte. Sie betrachten recht skeptisch auch die neue Freiheit, der sich Tausende ungarischer Kleinst-Unternehmer zu erfreuen scheinen. Mindestens drei der gezeigten Filme beschäftigen sich mit ihnen.

Geza hat eines Tages keine Lust mehr am ewigen Einerlei der Fabrik. Er hat entdeckt, daß man in den Wohnblocks aus Fertigbauteilen keinen Nagel in die Wand schlagen kann. Mit einem modernen Bohrer bietet er seine Dienste an. So ist er den ganzen Tag unterwegs und bohrt Löcher, die er sich einzeln bezahlen läßt. Eine Begegnung mit der bildschönen Nachbarin Eva führt nicht weit. Sie denkt an die Krampfadern ihrer Mutter, die sich als Putzfrau abgerackert hat, und ist kühl entschlossen, ihre Schönheit als Mittel zu besserem Leben zu nutzen. Eine Gruppe junger Frauen aus dem Wohnblock findet in ihrem staatlich garantierten Mutterschafts-Urlaub Zeit, um durch heimliche Liebesdienste das Haushalts-Budget aufzubessern.

Was hier in dem Film „Der Wandbohrer“ von György Szom-jas als Lustspiel unterhält, hat Pal Erdöss in dem Film „Countdown“ sehr ernst dargestellt: Sändor, der Buslenker, kauft auf Kredit einen gebrauchten Lastwagen und wird Fuhrunternehmer. Er rackert sich bis zu zwanzig Stunden am Tag ab, muß um jede Fuhre kämpfen, auch mit Bestechungsgeldern, und hat sich, als das ersehnte Häuschen endlich steht, ein so schweres Bandscheiben-Leiden geholt, daß er nur noch seiner Frau bei der häuslichen Näharbeit helfen kann, mit der die kleine Familie mühsam ernährt werden muß.

Tiefer, wenn auch etwas überladen, stellt Zsolt Kezdi-Koväcs das Thema dar („Der Verborgene“): Eine schon reifere Frau hat ein Textilgeschäft aufgebaut und ist dabei, ein zweites zu eröffnen. Ihre Geschäftigkeit in der freien Wirtschaft bringt neue Abhängigkeit: vom Geld. Sohn und Tochter weichen aus: der Sohn, ein Landwirtschafts-Pilot, baut sich einen Flugdrachen, mit dem er irgendwie seinen Freiheitsdrang befriedigen möchte. Die Tochter schließt sich einer religiösen Sekte an, in der materielle Überlegungen keinen Platz haben. Die normalen zwischenmenschlichen Beziehungen funktionieren nicht mehr.

Das zeigen auch etliche andere Filme, in denen Partnerschafts-Probleme die Hauptrolle spielen oder doch im Hintergrund stehen. Sehr ernst und verantwortungsbewußt diskutiert der Film „Embryos“ von Pal Zolnay die Proble-

matik der Abtreibung. Im Mittelpunkt steht Terez, die selbst Gynäkologin ist, ihre Schwangerschaft also bewußt herbeigeführt haben dürfte. Ihr Alltag verläuft zwischen Geburtshilfe und Abtreibung, sie führt unzählige Gespräche mit Frauen über Kinderwünsche und die Hindernisse, die dem entgegenstehen. Leider hat sie sich für das eigene Kind, das sie nun endlich haben will, einen Vater ausgesucht, den man nur als tragikomische Figur sehen kann. Er hat eine Frau und eine kleine Tochter, die Sonntage gehören den Söhnen aus erster Ehe. Wo soll er noch das Kind einer dritten Frau unterbringen? Am Schluß

bleibt offen, wie sich die Ärztin entscheiden wird: für das Kind oder für die Abtreibung. Es sieht allerdings so aus, als ob der Wunsch nach dem Kind siegen würde. Wie übrigens auch in einem anderen Film, wo ein Mädchen vor einer schon bewilligten und vorbereiteten Abtreibung im letzten Augenblick zurückschreckt.

Es gibt kaum noch ein Thema, das der ungarische Film nicht behandeln kann, kaum etwas, worüber man sich nicht lustig machen darf. Nur ist es mit der Lustigkeit nicht weit her.

Das komischeste Ereignis spielte sich außerhalb der offiziellen

Filmwoche ab. Das ungarische Filmarchiv öffnete eine dreißig Jahre alte Konservenbüchse. 1956, kurz vor dem Volksaufstand, hatte Stalins Statthalter Räkosi noch den Film „Bittere Wahrheit“ von Zoltän Värkonyi verboten. Und irgendwie muß er vergessen worden sein. Die besten Schauspieler der Budapester Theater waren da beschäftigt, in der Blüte ihrer Jahre. Zur Uraufführung hat man sie jetzt eingeladen, etliche aus dem Ruhestand geholt. Nachdem sie auf der Leinwand in ihren Rollen von damals zu sehen gewesen waren, verbeugten sie sich—plötzlich um dreißig Jahre gealtert -vor dem gerührten Publikum.

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