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Sozialdemokratie auf dem Prüfstand

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Die Entwicklung der Sozialdemokratie in Mitteleuropa hat schon wiederholt Historiker, Politologen und Journalisten zu einer intensiven Bearbeitung und Beschreibung gereizt. Gerade in letzter Zeit sind zu diesem Thema auch ein paar neue und wichtige Arbeiten erschienen, wobei auch ganz spezielle Problemstellungen Gegenstand der Untersuchungen waren. Aus Anlaß des SPÖ-Parteitages in dieser Woche haben wir eine Auswahl zusammengestellt:

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Die Entwicklung der Sozialdemokratie in Mitteleuropa hat schon wiederholt Historiker, Politologen und Journalisten zu einer intensiven Bearbeitung und Beschreibung gereizt. Gerade in letzter Zeit sind zu diesem Thema auch ein paar neue und wichtige Arbeiten erschienen, wobei auch ganz spezielle Problemstellungen Gegenstand der Untersuchungen waren. Aus Anlaß des SPÖ-Parteitages in dieser Woche haben wir eine Auswahl zusammengestellt:

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Den Judenhaß unterschätzt

SOZIALDEMOKRATIE UND ANTISEMITISMUS IM KAISERREICH. Die Auseinandersetzung der Partei mit den konservativen und völkischen Strömungen des Antisemitismus 1871-1914. Von Rosmarie Leu- schen-Seppel. Verlag Neue Gesellschaft, Bonn 1978, 347 Seiten, 26 Seiten Karikaturen, öS 561,60.

Sind Sozialismus und Antisemitismus unvereinbar? Daß diese Auseinandersetzung bis in die Gegenwart anhält, daran ist Karl Marx nicht ganz unschuldig. Die Autorin, die das Verhältnis von Sozialdemokratie und Antisemitismus im Kaiserreich untersucht hat, kommt zu Schlüssen, die auch für die österreichische Situation von Bedeutung sind.

Sie hält es für unwahrscheinlich, daß die Marx’sche Einstellung zum Judentum Auswirkungen auf die Haltung der Sozialdemokratie hatte - wobei noch zusätzlich zu untersuchen wäre, wie weit die antijüdischen Schriften von Marx nicht auch Gegenstand einer psychoanalytischen Beurteilung sein sollten.

Unbestritten ist, daß die deutsche Sozialdemokratie - ebenso wie die österreichische - den politischen An. tisemitismus .stets abgelehnt, daß de S Antisemitismus niemals Bestandteil sozialdemokratischer Programme war. Tatsache ist auch, daß die sozialdemokratische Bildungsarbeit stets versucht hat, den politischen Antisemitismus zu bekämpfen.

Anders sieht es mit der praktischen Politik aus. Es gab antisemitische Ausfälle gegen „marxistische Rivalen“ links von der Sozialdemokratie; auch die Sozialdemokratie machte Zugeständnisse gegenüber dem aufkommenden antisemitischen Zeitgeist (das gilt für die österreichischen Sozialdemokraten bis zum Beginn der zwanziger Jahre).

Vor allem aber beweist die Analyse der sozialdemokratischen Unterhaltungspresse, wie der Antisemitismus das Unterbewußtsein auch der Sozialisten durchsetzt hatte.

Eben diese Bewußtseinsspaltung- die bewußte Bekämpfung des politischen neben der unbewußten Beibehaltung des gesellschaftlichen und psychologischen Antisemitismus - führte zu einer nur schwer entschuldbaren Unterschätzung des Judenhasses, der den sozialdemokratischen Kampf gegen den politischen Antisemitismus schließlich zum hilflosen Unterfangen degradiert hat.

System- veränderer

SOZIALISMUS IN ÖSTERREICH. Von der Donaumonarchie bis zur Ära Kreisky. Von Walter Pollak. Econ- Verlag, Wien - Düsseldorf 1979, 320 Seiten, öS 280,80.

„Wer von einer sozialistischen Regierung erwartet, daß sie keine sy- stemverändemden Schritte unternimmt, ist politisch naiv“, schreibt Prof. Walter Pollak, langjähriger Chefredakteur der „Oö Nachrichten“, freier Publizist und Wissenschafter bis zu seinem Tod 1977, in einem gründlichen Werk über den Aufstieg der österreichischen Arbeiterbewegung bis zur Ausformung starker Gewerkschaften und einer staatstragenden Partei.

Pollaks Werk besticht durch die

Einbindung eines umfangreichen Faktenmaterials (obwohl die Weglassung vieler Vornahmen bei Namensanführungen ärgerlich wirkt). Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Phänomen Sozialismus in Österreich sucht man bei ihm freilich vergeblich:

Für ihn gibt es, speziell bei Darstellung der Zweiten Republik, nur' die Fehler der Gegner und die Unauf- haltsamkeit des Aufstiegs Bruno Kreiskys, dem nach Meinung des Autors ö VP-Bundeskanzler Josef Klaus in der Wahlnacht 1970 mit seiner Ab sage an eine „Koalition der Verlierer“ (- ÖVP und FPÖ) die entscheidenden Weichen stellte.

Aber wenn der Autor schon die SPÖ für die einzige politische Kraft hält, die derzeit „den Willen und das Rüstzeug“ zur Steuerung politischer Veränderungen in Österreich besitze, so ist auch seiner Darstellung zumindest die kleine Aussage zu entnehmen, daß, „Wer Kreisky nur als die liberale, die humane Persönlichkeit gesehen hat, die er auch ist, und damit assoziiert, daß er überhaupt kein Sozialist mehr sei, einer völligen Fehleinschätzung verfallen ist.“

Marx & Co

Wege und Ziele des Sozialismus 1888-2000. Von Walter Raming. Verlegt vom Reichsbund Niederösterreich.

MARXISMUS UND CO. Von Robert Dix. Herausgegeben und verlegt vom, Wirtschaftsbund Niederösterreich.

Gröber in der Argumentation, gröber in der Schlußfolgerung, aber im Ergebnis nicht völlig abseits von Pollak angesiedelt, gehen da die Autoren zweier anderer Bücher vor: Walter Raming und Robert Dix. Der Kärntner ÖVP-Journalist Raming hat sehr gründlich SPÖ-Programme mit marxistischen Quellen verglichen und kommt dabei zu dem Schluß; „Strategie und Taktik haben sich geändert. Das Ziel ist aber stets das gleiche geblieben: die schrittweise Zerschlagung unserer Gesellschaftsordnung ..

Sozusagen eine Art Kurzversion des Raming-Buches ist die Dix-Bro- schüre, die im populärwissenschaftlichen Schnellsiedeverfahren zur Schlußfolgerung kommt: Die SPÖ ist im Kern eine marxistische Partei geblieben.

Von Adler bis Bruno Kreisky

SOZIALDEMOKRATIE IN ÖSTERREICH. Idee und Geschichte einer Partei von 1889 bis zur Gegenwart. Von Fritz Kaufmann. Alma- thea-Verlag, Wien-München 1978, 600 Seiten, öS 520,-.

Der in sich scheinbar geschlossene Bilderbogen von Victor Adler bis zu Bruno Kreisky, vermittelt, was man in Publikationen von Autoren aus dem nichtsozialistischen Bereich fast regelmäßig vermißt: Stolzes Selbstbewußtsein.

Als einer, der heute bereits im neunten Lebensjahrzehnt steht, hat er die zum Bürgerkrieg führenden Entwicklungen in den zwanziger und dreißiger Jahren nicht nur als Zaungast verfolgt. Er war Journalist in Wien, Berlin, Prag und Paris.

Den Austritt der Sozialdemokraten aus der Regierung im Jahre 1920 bezeichnet der Autor „als den kardinalen Fehler der sozialistischen Politik in der Ersten Republik“; damit hätten sie sich zu Mitschuldigen der späteren Entwicklung gemacht. Bemerkenswert offen ist die Schilderung des Kampfes um die Anschluß-Idee in seiner Partei.

Eine weniger engagierte Einstellung zu Personen wie Seipel, Dollfuß oder Schuschnigg hätte vielleicht auch in dieser Hinsicht ein Mehr an Sachlichkeit ergeben.

Der informative Überblick über die Zweite Republik ist etwas seichter geraten, in Details haben sich Ungenauigkeiten eingeschlichen. Die Frage, ob sich die Partei nach Kreisky an der Macht halten wird können, läßt der Autor „weit offen“. Ausführliche Anmerkungen, ein Gespräch mit Kreisky und das neue Parteiprogramm ergänzen den Band.

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