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Soziale Besinnung

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Das „Europäische Zentrum für soziale Wohlfahrt" veranstaltete ein Expertentreffen zum Studium der Folgen der Wirtschaftskrise für den sozialen Sektor. Die vielfältigen Überlegungen gaben Anlaß zum folgenden Beitrag.

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Das „Europäische Zentrum für soziale Wohlfahrt" veranstaltete ein Expertentreffen zum Studium der Folgen der Wirtschaftskrise für den sozialen Sektor. Die vielfältigen Überlegungen gaben Anlaß zum folgenden Beitrag.

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Österreich hat beachtliche Ausgabensteigerungen im Bereich der sozialen Wohlfahrt zu verzeichnen. In den siebziger Jahren sind die Aufwendungen von 79 auf 258 Milliarden Schilling gestiegen. Ihr Anteil am Brutto-Inlandspro-dukt macht bereits 26 (1970: 21) Prozent aus.

Diese Tendenz zu drastisch steigenden Aufwendungen macht sich in allen Bereichen der Sozialausgaben bemerkbar: bei der Krankenversicherung (30 Prozent Steigerung von 1977 bis 1980) ebenso wie bei der Unfalls-, Pensions- und neuerdings auch bei der Arbeitslosenversicherung. Immer teurer wird auch die Alten- und Kinderbetreuung; die wachsende Aufmerksamkeit, die dem Behindertenproblem zugewendet wird, sollte sich auch finanziell auswirken…

Daß Österreich damit keine Ausnahmeerscheinung ist, zeigen Zahlen aus den EWG-Ländern: In den Niederlanden, Belgien und Deutschland machen die Sozialausgaben sogar rund 30 Prozent des Nationalproduktes aus.

War in Zeiten des raschen Wirtschaftswachstums die .aufwendige Sozialpolitik zu verkraften, so stellt die derzeitige Krise die Politiker vor schwierige Entscheidungen: Gelingt es nicht, die Wirtschaft anzukurbeln, so muß entweder der Druck auf den Steuerzahler verstärkt oder die Ausga-

ben für soziale Wohlfahrt gekürzt werden.

In dieser Situation reagieren die westlichen Länder unterschiedlich: Einige, wie die USA und England, verfügen drastische Kürzungen. Viele versuchen die Ausgabenexpansion zu dämpfen, etwa dadurch, daß Inflationsanpassungen verzögert werden oder geringer ausfallen.

Nur Frankreich geht einen ganz anderen Weg: Es baut die Sozialleistungen aus und hofft durch die Schaffung von 200.000 Arbeitsplätzen in diesem Sektor die Nachfrage und damit die Wirtschaft zu beleben.

Die weithin spürbare Bereitschaft, Sozialausgaben Zu beschneiden, spiegelt eine geänderte Grundhaltung diesem Sektor gegenüber wider. Steigerung der sozialen Wohlfahrt im bisherigen Stil ist nicht mehr unbefragter Bestandteil des Fortschritts. Immer deutlicher wird die grundsätzliche Kritik.

Da wird vor allem ins Treffen geführt, daß es sich um ein Reparatursystem handle, das überfordert sein muß, weil es nicht an die Wurzeln der Bedürftigkeit heranreiche.

Man müsse die Anstrengungen auf die Behebung der Ursachen und nicht auf die Reparatur von Schäden ausrichten. Diese vermehren sich aber laufend, wie in Österreich etwa die Zahl der Krankenstandsfälle: Sie stiegen von 75 Krankenständen je 100 Beschäftigten (1955) auf 94 (1977). Ähnliches beobachtet man in Deutschland.

„Wenn soziale Solidarität auch in den achtziger Jahren vor allem darin bestehen sollte, alle Opfer möglichst unauffällig und hygienisch abzuschleppen, die unter die Räder unserer Konkurrenz-und Wachstumsgesellschaft gekommen sind, wird unserer Sozialpolitik der Atem ausgehen", schreibt der SPD-Politiker Erhard Eppler und plädiert dafür, daß Sozialpolitik den Ursachen, „die immer mehr Menschen allzu früh in das Netz werfen", zu Leibe rücken möge.

Diesen eher von linken Kritikern vorgebrachten Bedenken gesellt sich die Kritik von rechts zu: Das derzeitige System trage dazu bei, daß der einzelne entmündigt wird und bestehende Hilfssysteme ihre Funktion verlieren. Die Leistungen von Familienmitgliedern, Nachbarschaften, Berufsgemeinschaft funktionierten immer schlechter. Alles mache heute nur mehr der „große Bruder" und das zunehmend ineffizient, mit immer größeren bürokratischen Apparaten. Typisch dafür sind etwa die Steigerungen der Verwaltungskosten bei der österreichischen Krankenversicherung: 23 Prozent im Jahr 1980!

So gerät das System der öffentlichen Wohlfahrt unter starken Druck von außen. Und ich habe den Eindruck, daß diese „Krise" wohltuend sein könnte, weil sie uns alle dazu zwingt, das bisher selbstverständliche Konzept von „Ubertrage alle Verantwortung an die da oben" in Frage zu stellen.

Im Rahmen des Badener Seminars wurde anhand mehrerer Beispiele erkennbar, daß bürokratisch und zentralistisch aufgebaute Apparate mit der Wahrnehmung der vielfältigen Aufgaben einfach nicht zu Rande kommen.

Daher wurde auch immer wieder die Forderung nach einer stärkeren Dezentralisierung des Systems der sozialen WoTilfahrt erhoben. Die bisher dominante Ideologie, daß Alte, Kranke, Kinder oder Behinderte am besten in Anstalten betreut werden, weicht der Einsicht, daß die bessere Lösung wohl die wäre, die Betreffenden in ihrem gewohnten Lebensraum zu belassen und ihnen dort so viel Hilfe und Unterstützung wie möglich angedeihen zu lassen.

Damit wird offenbar, daß es auch in Zukunft Aufgaben für die soziale Wohlfahrt gibt, daß aber das Was und Wie neu zu bedenken sein wird.

Daß man mit der Abgabe von

Kompetenzen an lokale Entscheidungsträger gute Erfahrungen gemacht hat, insbesondere auch im Hinblick auf Kosteneinsparungen, wurde am Beispiel eines Versuchs im Staate Ontario (Kanada) illustriert.

Andererseits wird eine mögliche Umorientierung zweifellos auch auf Schwierigkeiten stoßen. Insbesondere wird es durchaus nicht leicht sein, die oft zitierte Nachbarschafts- und Familienhilfe in dem Ausmaß zu mobilisieren, wie dies aus Kostengrün-

den notwendig wäre. Hier zeigt die englische Erfahrung, daß die eingeschränkten öffentlichen Hilfsmaßnahmen bisher durchaus noch nicht zu einem bemerkenswerten Anstieg der privaten Initiative geführt haben.

Leicht wird eine Änderung also nicht zu realisieren sein. Dennoch wird die Krise des Systems zur Chance, aus eingefahrenen Bahnen auszubrechen, die Anstrengungen dorthin zu richten, wo heute Hilfe gebraucht wird, und diese Hilfe so zu leisten, daß soziale Wohlfahrt nicht mehr Privatinitiative ersetzt, sondern im Gegenteil ermutigt und begünstigt.

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