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Soziale Explosion?

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FURCHE: WiS stark ist die „Liga der Unabhängigen Gewerkschaften“ in Ungarn?

PÄL FORGÄCS: Ich war im Mai vorigen Jahres Gründungsmitglied der Gewerkschaft der wissenschaftlich Tätigen. Das war damals noch illegal. Wir waren gewissermaßen Vorreiter für die folgenden Partei-(neu)gründungen. 1988 hatten wir 1.000 Mitglieder. Mittlerweile haben sich zehn weitere unabhängige Gewerkschaften gebildet. Die jetzt bestehenden elf unabhängigen Gewerkschaften haben ungefähr 40.000 Mitglieder.

FURCHE.Verstehen sich diese als Opposition?

FORGÄCS: Wir von der „Liga der Unabhängigen Gewerkschaften“ nehmen als Beobachter an den Gesprächen am Runden Tisch mit der KP teil. Wir sind keine politische Partei, aber wir stehen für Demokratisierung. Grundsätzlich haben wir dieselbe Zielrichtung wie die neuen politischen Parteien in Ungarn: Bildung eines demokratischen Ungarn, Mehrparteiensystem, Respektierung grundlegender Menschenrechte.

FURCHE.Wie ist das Verhältnis zum offiziellen Gewerkschaftsbund SZOT?

FORGÄCS:Im Gegensatz zu SZOT wurden die unabhängigen Gewerkschaften alle von unten gegründet. Das ist eine neue Form gegen den sogenannten demokratischen Zentralismus. Bei einigen konkreten Fragen ökonomischsozialer Natur gibt es von unserer Seite Konsultationen mit SZOT. Wir haben erreicht, daß die Regierung die gewerkschaftliche Pluralität akzeptiert hat. Die Unabhängigen sind heute anerkannt. Ungarn ist -auch ein Verdienst von uns - auch der Internationalen Arbeitsorganisation ILO beigetreten.

FURCHE: Ungarns Wirtschaftslage ist schlecht. Keine gute Zeit für Gewerkschaften?

FORGÄCS: Wir wollen keine soziale Demagogie. Wir müssen aufrichtig sagen, daß sich Ungarn nach 40jähriger kommunistischer Herrschaft in einer sehr tiefen Krise befindet. Auch wenn wir dafür nicht verantwortlich sind,werden doch wir die Lasten zu tragen haben. In erster Linie sind es die Arbeiter, die das spüren werden. Wir erwarten keine Wunder, aber wir müssen eine verantwortungsvolle und sehr konstruktive Arbeit leisten. Wir glauben auch, daß eine neue Regierung - nach freien Wahlen - kurzfristig nicht viel ändern wird können. Wirtschaftsstrukturen kann man natürlich verbessern,' aber kurzfristig wird sich der Lebensstandard bei uns nicht erhöhen. Unser Problem besteht darin, daß die Gefahr einer sozialen Explosion gegeben ist. Die Verarmung greift um sich. Eine Million Menschen leben schon unter dem Existenzminimum. Meist diejenigen, die nicht durch einen zweiten oder dritten Job Verluste kompensieren können.

FURCHE: Die meisten Österreicher kennen die Magyaren von Budapest und der Wiener Mariahil-ferstraße her und meinen, es geht ihnen ja ganz gut.

FORGÄCS: Das ist ein Irrtum. Unsere statistischen Daten zeigen, daß die Verarmung voranschreitet. Diejenigen.die sich in einer katastrophalen Lage befinden, sieht man ja nicht in Budapests Geschäftsstraßen oder in Wien. Die obere oder gehobene Mittelschicht, die in Österreich einkaufen kann, ist für Gesamtungarn nicht repräsentativ. Diese Schicht will in erster Linie

konsumieren. An den Sinn des Sparens und Investierens glaubt man nicht, weil es auch diesbezüglich, große Vertrauensverluste gibt.

FURCHE:Müssen Sie da Aufklärungsarbeit leisten?

FORGÄCS: Wir wollen die Gleichheit aller Eigentumsformen. Gesetze, die in diese Richtung gehen, wurden schon beschlossen. Aber Sie wissen ja, wenn das Vertrauen einmal weg ist, kann es nur schwer wiedergewonnen werden. Dieses Problem haben wir ja auch mit dem ausländischen Kapital. Es gibt bereits viele Investitionsmöglichkeiten, aber wann werden sie voll genützt? Kapital braucht Stabilität, wirtschaftliche und politische; aber das ist bei uns noch nicht der Fall.

FURCHE: Sie hoffen auf die neue Regierung?

FORGÄCS: Ich glaube.daß es im Frühjahr 1990 Wahlen geben wird -und dann eine Koalitionsregierung. Keine Partei kann mit der absoluten Mehrheit rechnen. Sicher ist, daß die Kommunisten ihre Vorhenv schaft verlieren werden, das haben auch die jüngsten Nachwahlen gezeigt, die alle von Oppositionellen gewonnen wurden. Wie weit die Kommunisten verlieren werden, das wird von den Entscheidungen des kommenden Parteitages (siehe Seite 3, Anm. d. Red.) abhängen.

FURCHE-.Droht Parteispaltung? FORGÄCS:Es sieht so aus. Aber selbst wenn es diese offiziell nicht

geben sollte, wäre die Spaltung eine Tatsache. Die Einheit der KP ist heute nur mehr formal. Es wäre gesünder, würde klargemacht, wo die einzelnen Leute wirklich stehen.

Mit Päl Forgäcs, Gründungsmitglied der er-sten-unabhängigen Gewerkschaft Ungarns, sprach Franz Gansrigier.

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