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Sozialismus als Begriff revidieren!

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Mitte August 1978 erfuhr die interessierte Öffentlichkeit von. der Zusammenarbeit zwischen dem polnischen Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR) und den Vertretern der Prager „Charta 1977“. Eine gemeinsame Erklärung wurde bei einem Treffen in der Nähe der polnisch-tschechischen Grenze beschlossen.

So begrüßenswert die Tatsache ist, daß sich damit neuerdings trotz Zensur und Verfolgung die Stimme jener, die Freiheit und soziale Gerechtigkeit suchen, einen Weg an die Öffentlichkeit schafft, konnte man in dieser Tatsache angesichts der sich häufenden Proteste gegen die autoritären Regime keine besondere Neuigkeit erblicken. Mit Recht verwies daher eine Wiener Tageszeitung darauf, daß vor allem die Kontaktnahme zweier Gruppen von Regimegegnern innerhalb der sozialistischen Staatengemeinschaft auffällt, die doch sonst mehr Kontakt zu westlichen Medien als zu den eigenen Schicksalsgenossen hatten.

An dieser Erklärung scheint mir jedoch ein Phänomen besonders beachtenswert.

Im Zuge der ganzen Diskussion um den Eurokommunismus, insbesondere um die Frage, ob er tatsächlich eine ideologische Erneuerung oder nur Taktik repräsentiert, um die ideologischen Hintergründe der Dissidentenbewegung und um die Frage eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz, distanzieren sich kommunistische Parteifunktionäre, Literaten, Intellektuelle von den Verirrungen, ja Verbrechen des Stalinismus, vom bürokratischen und autoritären Charakter der Regime in den osteuropäischen Ländern und stellen alles das in Gegensatz zu den .wahren“ Zielen des Sozialismus.

Nur wenige finden derzeit schon zu der klaren Konsequenz, sich von der Ideologie zu distanzieren, nämlich vom Sozialismus, so wie er von Marx und Engels konzipiert und vor allem auch von Lenin fortentwickelt wurde. Nur wenige sind bereit, anzuerkennen, daß es nicht darum gehen kann, das persönliche Regime eines Potentaten zu überwinden oder sich von einer Großmacht zu emanzipieren - wie es Santiago Carillo bei der Ostberliner Konferenz der europäischen kommunistischen Parteien am 29. Juni 1976 definierte-, sondern ; daß es darum geht, die Ideologie des Sozialismus zu überwinden.

„Humanität... gibt es nur, wenn der Sozialismus an sich überwunden wird“

Der dialektische und historische Materialismus, der Klassenkampf, die Diktatur des Proletariats, der demokratische Zentralismus, der proletarische Zentralismus waren und sind die wesentlichen Elemente des orthodoxen Sozialismus (=* Marxismus, vor allem in der von Lenin fortentwickelten Weise).

Humanität in Form der persönlichen Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, gesichert durch eine in steter Entwicklung befindliche Demokratie, gibt es aber nur, wenn der Sozialismus an sich überwunden wird.

Die Sozialisten bzw. Sozialdemokraten des Westens können hier als Beispiel angeführt werden. Zur Zeit der Spaltung in (westlich-sozialistische bzw. sozialdemokratische Parteien und kommunistische (östlichsozialistische) Parteien vor und nach dem Ersten Weltkrieg mußten es sich jene Sozialisten, die den demokratischen Weg gehen wollten, gefallen lassen, als Revisionisten, Häretiker des wahren Sozialismus abgestempelt zu werden.

Sie sahen jedoch, daß pluralistische Parteiendemokratie, Sicherung der Grund- und Freiheitsrechte des Menschen nur möglich sind, wenn Klassenkampf, Diktatur des Proletariats als zentrale ideologische Zielsetzungen und der historische Materialismus als Quasi-Reügion fallengelassen werden. Diese bewußtseinsmäßige Schizophrenie zwischen verstecktem oder offenem Bekenntnis zu Marx und Engels und die Distanzierung von den praktisch-politischen Konsequenzen des Marxismus zeichnet gar manche westlich-sozialistische Partei.

Es ist ja auch interessant, daß jene

sozialistischen bzw. sozialdemokratischen Parteien den größten Erfolg in freien Wahlen erzielen konnten, die sich tatsächlich oder zumindest dem Image nach und verbal am stärksten von den Grundgesetzen des orthodoxen Sozialismus distanziert haben.

Auch den Eurokommunisten wird man das Bekenntnis zur Demokratie, zum Machtwechsel von Regierungspartei und Opposition, zum Respekt vor den Grund- und Freiheitsrechten

erst abnehmen können, wenn sie sich - als Folge eines konkreten Revisionsprozesses - in der politischen Theorie und Praxis von den erwähnten Grundgesetzen des theoretischen Marxismus und von den Verbrechen des angewandten Marxismus distanzieren. Dann sind sie aber - wie immer sie sich offiziell nennen - keine kommunistischen bzw. orthodox sozialistischen Parteien mehr.

Der Kommunismus bzw. (orthodoxe) Sozialismus mit menschlichem

Antlitz ist eine Illusion, die es nicht gibt. Die Grundgesetze des orthodoxen Sozialismus lassen Humanität nicht zu, was immer die gutgläubige Illusion vieler Anhänger gewesen sein mag. Es gibt nur das eine oder das andere. „Aber das sollte nicht nur in der Praxis festgestellt werden“, schreibt der polnische Publizist Stefan Kisirlewski. „Man sollte den Mut haben, es auch in Theorie und Ideologie zu formulieren, indem man den Begriff des Sozialismus revidiert und das Wort selbst seiner für die Unwissenden noch immer attraktiven Magie entkleidet.“

Das Dokument der gemeinsamen Erklärung des polnischen Komitees zur Verteidigung der Arbeiter und der Charta-1977-Vertreter stellt einen wichtigen Schritt in diese Richtung dar. Zum ersten Mal wird nicht mehr von der Verwirklichung des wahren Sozialismus, einer echten sozialistischen Demokratie gesprochen. Das Wort sozialistisch kommt überhaupt nicht-mehr vor. Weil man sich offensichtlich bewußt war, daß Ideale, die man anstrebt, nämlich eine Gesellschaft auf wirklich humanistischen Werten zu schaffen, die Wahrheit, die Menschen- und Bürgerrechte, die Demokratie und die soziale Gerechtigkeit durchzusetzen, nur möglich sind, wenn man die Grundgesetze des Sozialismus tatsächlich über Bord wirft (was eine Reihe von Sozialdemokraten bereits getan haben), darüber hinaus aber den Mut hat, sich davon auch verbal zu distanzieren.

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