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Sozialistische Jungtürken '73

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Die glanzvollen Feiern zum fünfzigjährigen Bestehen der Türkei als Republik, die gleichzeitige Eröffnung der seit Monaten fast fertiggestellten gewaltigen Brücke über den Bosporus, die man sich für das bevorstehende Jubiläum aufgespart hatte — in monatelangen Vorbereitungen war das große Doppelereignis ganz darauf angelegt worden, den Wahlsieg der regierenden Gerechtigkeitspartei und wohl auch ein politisches Comeback ihres Führers, des 1971 von den Militärs zum Rücktritt gezwungenen Ministerpräsidenten Demirel, pompös zu unterstreichen. Doch der 14. Oktober wollte es anders.

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Die glanzvollen Feiern zum fünfzigjährigen Bestehen der Türkei als Republik, die gleichzeitige Eröffnung der seit Monaten fast fertiggestellten gewaltigen Brücke über den Bosporus, die man sich für das bevorstehende Jubiläum aufgespart hatte — in monatelangen Vorbereitungen war das große Doppelereignis ganz darauf angelegt worden, den Wahlsieg der regierenden Gerechtigkeitspartei und wohl auch ein politisches Comeback ihres Führers, des 1971 von den Militärs zum Rücktritt gezwungenen Ministerpräsidenten Demirel, pompös zu unterstreichen. Doch der 14. Oktober wollte es anders.

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Ein weder inner- noch außerhalb des Landes vorhergesehener Wahlausgang stempelte die Festivitäten des 29. Oktober zum Schwanengesang einer abtretenden Regierungspartei, dem die von der türkischen Bevölkerung viel stärker beachteten, gleichzeitig einsetzenden Geburtswehen einer neuen Regierungskoalition auf der ganzen Linie die Show stahlen. Nicht nur dort, wo er persönlich auftrat, sondern auch wo er lediglich auf dem Bildschirm erschien, in Hotelfoyers, in Radiogeschäften mit eingeschalteten Fernsehern, erhielt der Mann der Stunde spontan Applaus. Er heißt Bülent Ecevit.

Siegesstimmung unter den Jungtürken von 1973: der neue Mann an der Spitze der neuen Partei will die Türkei in eine neue Zeit führen und sie sind bereit, ihm zu folgen. Ecevit ist mehr als ein siegreicher Parteiführer, er ist ein Volkstribun, ein Mann mit Charisma. Aber schon beginnen sich die Kräfte der Vergangenheit schwer und zäh an seine Schuhe zu kleben und den Aufbruch zu neuen Ufern zu erschweren. -

Seine volksrepublikanische Partei ist nicht neu und doch neu — einst die Partei der auf ihre Art stockkonservativen kemalistischen Honoratioren unter der Führung des Grand Old Man Ismet Inönü, der mit Argusaugen darüber wachte, daß sich seine, Schaf lein nicht i allzu weit nach links verirrten, wurde sie, nachdem Ecevit die Führung an sich gerissen hatte, innerhalb kürzester Zeit zur sozialdemokratisch orientierten Massenpartei etwa nach schwedischem, westdeutschem oder österreichischem SP-Muster. Daß eine solche Partei der Türkei fehlte, war bekannt — wie groß der Bedarf nach ihr war, hat erst der Wahltriumph von Ecevit gezeigt.

Doch der Erdrutsch war nicht groß genug, um Ecevit die absolute Mehrheit zu sichern. Selbst mit den 13 Mandaten der Vertrauenspartei, die den kemalistisch-konservativen, Inönü treu gebliebenen Rest der ehemaligen Inönü-Partei verkörpert, aber von einem schmollenden Inönü in keiner Weise unterstützt wurde, wäre Ecevit von der absoluten Mehrheit weit entfernt. Der eigentliche Sieger der Parlamentswahl war eine „Heilungspartei“, die neu ist und doch nicht neu — die erst seit einem Jahr besteht und der niemand die geringsten Chancen gegeben hatte, mehr als zwei oder drei Mandate zu erringen. Und die mit nicht weniger als 48 Sitzen einen triumphalen Erfolg errang.

Diese Heilungspartei ist das Sammelbecken der streng islamischen Kräfte, politisch hingegen sozial-reformerisch linksorientiert — eine türkische Baath-Partei nicht ohne ghaddafische Züge. Ihr Erfolg dürfte weitgehend auf Kosten der geschlagenen Gerechtigkeitspartei gehen — er stellt sozusagen die Quittung für jene zwei Jahrzehnte dar, in denen die Gerechtigkeitspartei, zuerst unter dem 1960 von der Armee abgesetzten und später hingerichteten Menderes, später unter Demirel, den von Kemal Atatürk zurückgedrängten Islam hätschelte, um mit Hilfe der rückständigen Dorfbevölkerung an der Macht zu bleiben. Die Kosten trägt nicht nur die Gerechtigkeitspartei, sondern die gesamte Türkei — und der Entschluß der Gerechtigkeitspartei, auf keinen Fall eine Koalition mit Ecevit einzugehen, kann den Schaden nur vergrößern.

Denn gegen eine große Koalition zwischen Gerechtigkeitspartei und

kaum noch eine andere Möglichkeit offen. Der Verzicht auf eine Regierungsbildung kann ihm nicht zugemutet werden — und auch der türkischen Bevölkerung nicht, die offensichtlich sozialdemokratische Reformen wünscht.

Professor Erbakan, der die Heilungspartei führt und vor einiger Zeit geäußert haben soll, die Antibabypille sei eine Waffe des Papstes zur Eindämmung islamischen Be-völkerungiswachstums, hat bereits seine Koalitionsbedingungen angedeutet: Er ist für einen Kurs des sozialpolitischen Fortschrittes, wünscht aber die Unterordnung der Politik unter die Prinzipien des Islams. Nur ein, aber nicht das unwichtigste Opfer auf dem Altar einer solchen Koalition wäre der Verzicht auf forcierte Geburtenkontrolle, welche die Türkei angesichts ihrer Position unter den ersten Spitzenreitern in der Weltrangliste der Nationen mit hohem Bevölkerungswachstum so nötig hätte.

Damit könnte jener Mann, vor dem sich an ihrem 50. Geburtstag die gesamte Türkei verneigte, zum eigentlichen Verlierer des 14. Oktober werden: Kemal Atatürk, der als Mustafa Kemal 1881 in einer Provinzstadt des osmanischen Imperiums namens Saloniki geboren wurde. Die Gerechtigkeitspartei hat zwei Jahrzehnte lang eines seiner wichtigsten Prinzipien, den Laizismus, unternimmt — nun droht es zu stürzen. Zweifellos rückt die Türkei heute wieder etwas näher an die arabische Welt heran, ebenso zweifellos ist nicht nur der Islam dafür verantwortlich zu machen; die Solidarität der Linken aller Länder mit den Palästinensern hat erheblich dazu beigetragen. Noch 1967 war die öffentliche Meinung der Türkei weitgehend auf israelischer Seite — ebenso wie in Europa. Heute folgt, auf der Linie der eigenen wie der internationalen Widersprüche, die von Kemal Atatürk aus dem Araber-tum herausgeführte verwestlichte Türkei nur westlichen Vorbildern, wenn ein etwas krampfiger Neutralismus ihrer Massenmedien die ganz

anderen Empfindungen der anatoli-schen Massen kaschiert.

Atatürk ist heute in der Türkei von Istanbul bis Van allenthalben präsent: Führerfigur, Vaterfigur, Nationalsymbol in einem. Kein Kaffeehaus, keine Hotelhalle ohne Atatürk. Freilich hängt sein Bild oft neben der Koransure in arabischer Schrift, die er verboten hat. In der Türkei ist heute der Atheist Atatürk so allgegenwärtig wie der Islam, Atatürk als Photo, Atatürk als Büste, Atatürk als Relief, als Ganzstatuette oder als Denkmal auf kleinen und großen Plätzen, lebens- und überlebensgroß. Atatürk gemalt, gezeichnet, geschnitzt, sogar aus Plastik-rnaterial und von innen beleuchtet, Atatürk von Künstlern dargestellt und Atatürk unsagbar kitschig. Atatürk als grimmiger Krieger, Atatürk als in unbekannte Fernen blickender

Führer seines Volkes, Atatürk die Arme ausbreitend, Atatürk Hände schüttelnd, Atatürk mit geballten Fäusten. Naive Menschen bevorzugen einen jungen, strahlenden Atatürk, Offiziere einen Atatürk in Uniform, Mondäne einen Atatürk im Frack, Intellektuelle einen gealterten, zergrübelten Atatürk, aus dessen Augen das Bewußtsein spricht, nicht erreicht zu haben, was man erreichen wollte.

Aber wo ein Atatürk-Standbild ist, ist meist auch eine Moschee nicht fern, meist eine neuere Moschee als das Denkmal des Gazi. Und niemand zitiert mehr Atatürks Sätze: „Seit mehr als fünf Jahrhunderten haben die Vorschriften und Theorien eines alten arabischen Scheichs und die unsinnigen Auslegungen ganzer Generationen schmieriger und unwissender Priester in der Türkei alle Einzelheiten des Zivil- und Strafrechtes festgelegt. Sie haben die Form der Verfassung, jede geringste Handlung und Geste im Leben des einzelnen Bürgers bestimmt, seine Ernährung, sein Wachsein und seinen Schlaf, den Schnitt seiner Kleidung, was er in der Schule lernt, seine Sitten, seine Gewohnheiten, ja seine privatesten Gedanken. Der Islam, diese absurde Theologie eines unmoralischen Beduinen, ist ein in Fäulnis übergegangener Kadaver, der unser Leben vergiftet.“

Der Mann, der das geschrieben hatte, erhielt auf Betreiben seiner Schwester ein streng islamisches Begräbnis, und das religiöse Begräbnis des Atheisten Mustafa Kemal ist ein Symbol des heutigen türkischen Widerspruchs. Es ist wahr, daß ohne Kemal Atatürk die Türkei auf ihrem Weg der Emanzipation niemals so weit vorangekommen wäre, wie sie in der kurzen Schaffensperiode des Gazi, des Führers, tatsächlich vorankam — ebenso richtig ist aber auch, daß alles das in seinem Lebenswerk, was heute unangefochten dasteht und zur Selbstverständlichkeit geworden ist, auch Atatürk vorgezeichnet war. Denn er war — ebenso wie etwa ein Nasser, aber um vieles bedeutender als dieser — ein revolutionär gesinnter Offizier unter and

ren revolutionär gesinnten Offizieren, der intelligenteste, weitblik-kendste, dynamischeste unter ihnen, und auf jeden Fall die stärkste Führerpersönlichkeit, aber das politische Bewußtsein und das Wollen der Gruppe, aus der er stammte, war die Vorbedingung für alles, was er geschaffen hat. (Und was in diesem Ausmaß wohl kein anderer von ihnen hätte schaffen können.)

So war auch die radikale Verwestlichung der Türkei kein Atatürk-scher Spleen, sondern seit Jahrzehnten das Programm der revolutionären Offiziere, und auch der bürgerlich-republikanische Mehrparteienstaat, auf den hin der Antikommu-nist Mustafa Kemal die Türkei diktatorisch programmierte, war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die tiefe Sehnsucht einer in Frankreich geschulten, oppositionellen türkischen Intelligenz. Wie fest die demokratisch-parlamentarischen Grundsätze im politischen Bewußtsein der Türkei verankert sind, beweist deren zweimalige Rückkehr von Diktaturen zu verfassungsmäßigen Regierungsformen.

Mustafa Kemal war ein junger und befähigter Offizier des 3. Armeekorps, in dem (zusammen mit dem 2. Armeekorps) die Appelle des

Jungtürkischen Komitees „Einheit und Fortschritt“ solchen Widerhall fanden, daß dieses von Genf nach Saloniki, einer der wichtigsten Garnisonen, übersiedeln konnte. Bereits 1908 marschieren die beiden Armeekorps gegen Stambul, wo Sultan Ab-dülhamid IL, ein von Verfolgungswahn und Attentatsangst gepeitschter, in einer unglückseligen Haremserziehung deformierter, zutiefst reaktionärer Mann, retten will, was zu retten ist, und einen liberalen Großwesir ernennt, Spitzelwesen und Zensur werden abgeschafft, der Sultan eröffnet das Parlament (!), Ab-dülhamid dürfte der einzige Potentat der Weltgeschichte sein, der seine Entmachtung mit der Gründung einer politischen Massenpartei beantwortet hat. (Seine „mohammedanische Einheitspartei“ wird freilich zum Sammelbecken aller reaktionären Kräfte.) Wenige Monate später benützt er die Ermordung eines Journalisten als Vorwand zur Wiederherstellung des Absolutismus. Neuer Marsch der beiden Armeekorps nach Stambul, Verbannung des Sultans nach Saloniki, sein Bruder Resad besteigt als Mehmed V. den Thron, während das Komitee für Einheit und Fortschritt (dessen Mitglieder der Bevölkerung zum Teil unbekannt bleiben) anonym regiert. Verfassung und Demokratie waren einst die wichtigsten Worte der Jungtürken — jetzt ist nur noch von Nation und Türkentum die Rede.

Die Niederlage der Türkei an der Seite der Mittelmächte wird zur Stunde des Mustafa Kemal. Die Italiener landen in , Antalya, die Griechen in Smyrna (heute Izmir),,in Rußland haben die gegen die Sowjetmacht opponierenden Armenier einen bürgerlichen Staat gegründet, der die Türkei um einen Teil ihrer östlichen Provinzen zu verkleinern gedenkt. Der neue Inspektor der Militärbezirke Sivas und Erzurum, dessen Aufgabe eigentlich die Demobilisierung der türkischen Streitkräfte wäre, nimmt volle Handlungsfreiheit für sich in Anspruch und gründet eine „Liga zur Verteidigung der Rechte Ostanatoliens“. Sein Name: Mustafa Kemal. Er garantiert den •Resten der großteils ausgerotteten

armenischen Minderheit volle persönliche, wirtschaftliche, kulturelle und religiöse Freiheit. Während die Regierung in Stambul zur Schattenregierung wird, die Briten in Konstantinopel landen, die türkische Nationalversammlung auflösen und viele ihrer Mitglieder verhaften, wächst Mustafa Kemals Schattenregierung im Osten zur eigentlichen Regierung der Türkei heran.

Mustafa Kemal hat nicht aus Machtgier, sondern in einer Stunde höchster Not die Führung seines Volkes übernommen. Unter seiner Führung tritt die Große Türkische Nationalversammlung in Ankara zusammen, um die Unabhängigkeit der Türkei zu proklamieren. Er schließt einen Waffenstillstand mit dem zwischen Sowjetmacht und Türkei zerriebenen armenischen Staat und ruft zum nationalen Krieg gegen die Griechen, deren König die Parole „Nach Ankara!“ ausgegeben hat. Die Nationalversammlung ernennt ihn zum Oberbefehlshaber, General Ismet Pascha besiegt die Griechen in der berühmten ersten Schlacht von Inönü — er wird später den Namen Ismet Inönü annehmen und das Wort „Pascha“, in einer erregten Parlamentsdebatte dem alten Mann ins Gesicht geschleudert, wird die schwerste Beleidigung darstellen, die es gegen ihn gibt. Inönü, mittelgroß, beweglich, etwas schwerhörig, was er bei Verhandlungen geschickt auszunützen versteht, wird in Lausanne nach dem militärischen Sieg über die Griechen bei den Friedensverhandlungen sofort als gleichberechtigter Partner anerkannt und erkämpft der Türkei nun auch den politischen Sieg. Ismet ist ein enger Freund Kemals — und nicht nur ein Freund, sondern ein Gefolgsmann von unbedingter, kompromißloser Loyalität.

Atatürk war mehr ein Volkstribun als ein Diktator. Als er befahl, jeder Türke, vordem nur mit dem Vornamen gerufen, habe einen Familiennamen anzunehmen, verlieh ihm die Nationalversammlung den Namen Atatürk, Vater der Türken. Er war ein strenger, oft harter Vater, und er konnte seine Härte zur blutigen Tyrannei steigern, wenn er sein Ziel gefährdet sah — dieses Ziel aber war immer der verfassungsmäßig regierte, parlamentarische Mehrparteienstaat. Die Legitimität seiner eigenen absoluten Herrschaft war jedoch auf die Zustimmung der Massen gegründet, vor denen er sich niemals zu verstecken brauchte. Ata-türk, der Mann mit dem großen Charisma und der auf alten Plattenaufnahmen eher brüchig und wenig eindrucksvoll klingenden, die Türken trotzdem hinreißenden Stimme, ging persönlich in die Dörfer, um die Türken das Lesen zu lehren (70 Prozent haben es noch immer nicht gelernt), er verkörperte die Türkei im Positiven wie im Negativen: In ihrer Sehnsucht nach Verwestlichung, nach Modernisierung, nach „Kultur“ und „Zivilisation“ — aber auch in ihrem übersteigerten, aus Unsicherheit resultierenden Nationalismus.

In dem Mausoleum, das man ihm gebaut hat, steht die schwere, zwölfzylindrige Lincoln-Staatskarosse, mit der er in seinen letzten Lebensjahren über die damals noch unmöglichen türkischen Straßen fuhr, liegen seine Stöcke, seine Gamaschen, sein Pelz — und der vom persischen Schah geschenkte Säbel. Wahrscheinlich hat kein Diktator des 20. Jahrhunderts eine Nation so tief umgestaltet wie Atatürk — bis in die Sprache hinein, die er so tiefgreifend reformierte, daß heutige Türken die frühen Reden des „Gazi“ nicht mehr verstehen.

Volksrepublikanem kann zwar einiges eingewendet werden — aber sie wäre, nicht nur durch die auf diese Weise erzielbare, weitaus breitere parlamentarische Mehrheit und Massenbasis, das kleinere Übel gegenüber der kleinen Koalition der Volksrepublikaner mit den Islamfanatikern. Der Oppositionsbeschluß der Demirel-Partei läßt aber Ecevit

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