6913036-1981_15_19.jpg
Digital In Arbeit

Soziallehre: Theorie gut, Praxis mager

19451960198020002020

Eine tiefgreifende Umschau über die aktuelle Situation der Katholischen Soziallehre heute unternahm das Institut für Sozialpolitik und Sozialreform anläßlich des 90. Geburtstages der Enzyklika Rerum Novarum in seiner neusten Publikation. Der vorliegende Beitrag stammt von einem Referenten des österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitutes, der seine Position als sympathisierender Außenseiter der Soziallehre kennzeichnet.

19451960198020002020

Eine tiefgreifende Umschau über die aktuelle Situation der Katholischen Soziallehre heute unternahm das Institut für Sozialpolitik und Sozialreform anläßlich des 90. Geburtstages der Enzyklika Rerum Novarum in seiner neusten Publikation. Der vorliegende Beitrag stammt von einem Referenten des österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitutes, der seine Position als sympathisierender Außenseiter der Soziallehre kennzeichnet.

Werbung
Werbung
Werbung

Die Katholische Soziallehre ist in meiner subjektiven Beurteilung eine ausgezeichnete Analyse der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme Unserer Welt. Zu ihren besonderen Vorteilen zählt das frühe und treffende Erkennen von sozialen Problemen und die Ausgewogenheit der Formulierungen.

Als Beispiel dafür gelten die ausgefeilten Sätze über das Verhältnis von privater Initiative und staatlichem Eingriff in der Wirtschaft, über die Mitbestimmung, über soziale Verpflichtungen des Eigentums oder über die Einkommensunterschiede zwischen den Weltteilen.

Diesem Lob folgt Unmittelbar die Kritik: Hauptproblem der Katholischen Soziallehre ist, daß sie wenig

Wirkung zeigt. Es gibt christlich konservative Regierungen, die wie die ÖVP in ihrer Regierungszeit sozialen Fortschritt (z.B. Pensionsdynamik) zustande bringen. Doch eher unter dem Druck sozialistischer Forderungen als unter der drückenden Motivation des eigenen durch die Soziallehre geprägten Gewissens.

Christliche Politiker besinnen sich der Katholischen Soziallehre bestenfalls in Sonntagsreden, wenn es um treffliche Abgrenzungen und um die Entra- dikalisierung von sozialistischen Vorschlägen um Mitbestimmung und Einkommensverteilung geht.

Die katholische Kirche hat zur Abtreibung, zum Kirchenbeitrag und zur Familienpolitik oft und vehement Stellung bezogen, nicht jedoch zu Ungerechtigkeiten in den Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zu Problemen in der Wohnungssituation von Großfamilien, zu spekulationsbedingten Hausabbrüchen oder zur ungenügenden Integration von Gastarbeitern in Wien.

So fühlt sich der Arbeitnehmer in Österreich in keiner Weise von der Katholischen Soziallehre auf seinem Weg

unterstützt. Der Arme wird oft von der Gemeindekirche (Altenbesuchen, Kindergärten, Weihnachtsaktionen) cari- tativ unterstützt, eine Besserung seiner Situation durch die gesellschaftspolitische Wirkung der Katholischen Soziallehre erfährt er jedoch nicht einmal andeutungsweise.

Eine der Schwierigkeiten für die Kluft zwischen der intellektuell und vernunftmäßig großartigen Arbeit der Soziallehre und der praktischen Irrelevanz sind fehlende Aussagen der Soziallehre über Konflikte und deren Austragung. Der Versöhnungs- und der Solidaritätsgedanke sind so sehr Kernpunkte der Katholischen Soziallehre, daß weder der einzelne noch die Kirche als Organisation einen Mechanismus zur Bekämpfung all jener Widerstände erfährt, die sich der Verwirklichung der Gedankeiftatsächlich entgegenstellen.

Noch ein Wort zur Katholischen Soziallehre alš Abgrenzungsphilosophie zum Sozialismus. Je mehr wir uns einer Wohlstandsgesellschaft nähern desto größer werden die Unterschiede. Probleme können dann alternativ über große Institutionen oder über subsidiäre Entscheidungsträger gelöst werden…

Doch ist die Frage nach der Form der Lösung von Problemen nachrangig der Frage, mit welcher Dynamik Probleme der Gesellschaft überhaupt empfunden werden.

Und hier haben Christen als Laien und als Priester und als Politiker in der Mehrzahl ein weniger drückendes Bewußtsein über die Härte der Probleme und die Notwendigkeit von Lösungen als Sozialisten.

Aus dem Gesagten ergibt sich die erste Forderung an eine neue Enzyklika: Sie sollte die geringe Änderungswilligkeit und das geringe ProblembevVußt- sein gerader jener Personen kritisieren, die sich als gute Christen, als christliche Politiker und als Verkünder der kirchlichen Lehrmeinung ausgeben; ebenso die Gleichgültigkeit der „schweigenden Mehrheit“ der Taufscheinkatholiken.

Der zweite Wunsch wäre die Feststellung, daß gesellschaftliche Veränderungen nur gegen Widerstände möglich sind und daß bei aller Beschränkung des Handlungsspielraumes durch Solidarität und christliche Nächstenliebe auch Konfliktstrategien nötig sind.

Besonders hinsichtlich Mitwirkung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer ist die Soziallehre schon vor Jahrzehnten fortschrittlicher gewesen als es christlich konservative Parteien heute noch sind. Hier wäre festzuhalten, daß realistischer Weise viele Unternehmer ihre Führungsinteressen vor die Verpflichtungen aus der Soziallehre stellen.

Daraus ergibt sich die Frage, welche Strategien Arbeitnehmer einschlagen können, ohne dem weitgefaßten Solidaritätsprinzip zuwiderzuhandelh.

Neben dem Mitbestimmungsaspekt werden andere Aspekte wie Selbstgestaltung der Arbeit, Abbau von Routinetätigkeiten und Humanisierung der Arbeitswelt im weitesten Sinn bedeutsam.

Auszug aus: „Wünsche der Gegenwart an eine neue Sozialenzyklika“ in der Zeitschrift Gesellschaft und Politik 1/81

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung