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SP-„Madier“ und ihr Lehrer

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In dem Augenblick, da nicht nur in Europa die Grenzen des politisch Machbaren deutlich wurden, da starke nostalgische Strömungen sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit begaben, da Reformwut an Strahlkraft verlor, entdeckten sozialistische Gruppierungen die Notwendigkeit, sogenannte „Macher“ groß herauszustellen.. In der Bundesrepublik Deutschland verkörpert Bundeskanzler Helmut Schmidt den nun gefragten Typ und in Österreich wird man einige Persönlichkeiten aus der Regierungsmannschaft und — mit Einschränkungen — auch Bundeskanzler Kreisky diesem Typ zurechnen können. Jedenfalls gibt man sich so, als gelte es heute, Erreichtes zu verteidigen, die Zukunft vor denkbaren Gefahren abzusichern. Der marxistische Traum von einer „besseren Welt“ scheint bis auf weiteres aufgegeben.

Dieser, wenn man so will, revisionistische Kurs fand auch seine theoretische Begründung: in den Lehren des aus Wien nach England emigrierten Philosophen Sir Karl Popper. Sein „Kritischer Rationalismus“ will Alternative zu jeglichem Dogmatismus sein, ob dieser sich nun auf Offenbarung beruft oder auf Letztbegründbarkeit zu stützen versucht. Karl Popper versucht, die Idee wahrheitsfähiger Wissenschaft als bleibende intellektuelle Aufgabe zu lösen. Empirische Theorien sollen Bewährungsikontrollen mitteis möglichst genauer und strenger Prüfverfahren unterworfen werden, derart, daß die Rigorosität solcher fortgesetzter Kontrollen subjektive Bewertungsunterschiede zugunsten einer Art quasi-objektiver Gesamtbewertung der Theorie aufheben. Sein Kritischer Rationalismus beharrt auf einer reformistischen, schrittweisen Umgestaltung bestehender Verhältnisse mit dem Ziel einer „offenen“ Gesellschaft. Die Wissenschaft, so heißt es bei Karl Popper, ist ein aufklärerischer Prozeß; sie befreit von alten Vorurteilen, von alten Glauben und von allen Gewißheiten. Sie erhält sich im ständigen Hin und Her von Entwurf und Kritik, von Versuch und Irrtum, „trial and error“, von der ständigen Diskussion ihrer Fehler, aus denen allein wir lernen können.

Die Sozialdemokratie in Deutschland wiederentdeckte diese von Karl Popper vor mehr als dreißig Jahren im neuseeländischen Exil propagierten Thesen. Jüngst wurde ein Sam-melband mit Aufsätzen Poppers und seiner Befürworter herausgegeben; Bundeskanzler Helmut Schmidt schrieb dazu das Vorwort. Und mit kleiner zeitlicher Verzögerung fand auch die österreichische „Arbeiter-Zeitung“ zu Karl Popper zurück; schrieb davon, daß er in der Zwi-schenkriegszeit Mitglied der Sozialistischen Jugend war und auch heute noch der Sozialdemokratie recht nahesteht. Aber auch in liberaleren Kreisen stößt die Renaissance des Popper'schen Kritischen Rationalismus auf einiges Interesse, wird hier doch der Wertneutralität und dem Merhodenpluraiismus das Wort geredet; eine Sozialtechnik ideologi-siert, die alles erlaubt, so lange eine Möglichkeit des Beweises ihrer Richtigkeit denkbar ist.

Dem von der Sozialdemokratie wiederentdeckten Karl Popper geht es um die Frage, wie weit der Entscheidungscharakter der Politik durch Rationalisierung gebannt werden kann. Popper sieht hier, was zu bestreiten ist, keine Grenzen. Rationalität des Handelns ist nur dort möglich, wo Detailfragen behandelt werden, wo die Zwecke unbestritten, distinkt definiert und technologisch beherrschbar sind. Das allerdings macht die Wissenschaft zum politischen Handeln unfähig. Denn Politik hat ihren handlungstheoretischen Raum gerade im Strittigen und Komplexen; ihre Aufgabe ist es, im Streit der Meinungen und Fakten einen entscheidungsfähigen und handlungsfähigen Willen aufzubauen.

Poppers Kritischer Rationalismus, konsequent und illusionslos zu Ende gedacht, führt zur Einsicht, daß jedes empirisch-rational orientierte Streben nach der letzten Begründung von Erfahrungswissen im Sinne subjektfreier Objektivität eine Art „Haschen nach Wind“ ist. Das Fragen bricht nirgends ab. Der Kritische Rationalismus fragt nicht nach dem Woher und den Bedingtheiten des (politischen) Wülens zum Handeln, nach den philosophischen Voraussetzunigen des angeblich sicheren Wissens vom Primat der Willensfähigkeit vor der Erkenntnisfähigkeit. Da dieses Wissen wiederum auf dem Erkennen von etwas beruht, ist man gleich wieder im Zirkel oder im unendlichen Regreß.

Sozialdemokratische Regierungsparteien, die nun im Begriff sind, zu Karl Popper zu finden, haben in den letzten Jahren viel von den Schwierigkeiten, den Menschen ein von allen ökonomischen Gefahren abgesichertes Paradies auf Erden einrichten zu wollen, erfahren müssen. Es bereitet ihnen heute große Mühen, einer jedenfalls zum Teil selbstverschuldeten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Unsicherheit erfolgreich zu begegnen. Mit Reform-Versprechen ist heute kaum eine Wahl zu gewinnen. Möglicherweise aber mit Beteuerungen, das Erreichte abzusichern, politische Grundsatzentscheidungen für die nächste Zukunft auszuklammern. In dieser Situation mußte die Wiederentdeckung der Lehren Karl Poppers wie gerufen kommen. Letztlich werden darin recht einsichtig politische Verschnaufpausen gerechtfertigt. Und niemand kann heute dezidiert behaupten, daß diese Verschnaufpausen lange über die nächsten Wahltermine hinausreichen werden.

Poppers Kritischer Rationalismus, die Idee von Versuch und Irrtum, ist nie widerspruchslos hingenommen worden. Thomas S. Kuhn hat beispielsweise in einer historischen Analyse dargestellt, daß sich wissenschaftliche Revolutionen ganz anders durchgesetzt haben, als dies Popper unterstellt.

Tatsächlich wäre der Kritische Rationalismus .unrealistisch' und auch ,unimenschlieh', würde er beständig versuchen, sich selbst zu falsifizieren und frühestens nach zahlreichen gescheiterten Falsiflzierungsversuchen getreu nach der Devise Poppers („Wir müssen immer bestrebt sein, unsere Theorien zu falsifizieren“) Ruhe geben. Tatsächlich aber gibt es bereits eine Popper'sche Schule (Imre Lakatos, Hans Albert, Ernst Topitsch usw.), die sich vor allem darin übt, die Richtigkeit der Lehren Poppers zu rechtfertigen. Im Zweifel für die Theorie — lautet ihr Wahlspruch, der so gar nicht in das Lehrsystem Poppers paßt. So wie sich der gründliche Atheismus nicht selten zu einem Glaubensersatz aufplustern kann, blieb es auch dem Anti-Dogmatismus nicht erspart, dogmatische Formen anzunehmen, im Irrationalismus zu erstarren. Wie denn auch anders: es hieße, historische Erfahrungen verleugnen, wollte man nicht zugeben, daß sich die These von der ausweglosen Unmöglichkeit sogenannter letzter Begründungen und die Verklärung der Leere zu einer Art Letztlbegrundung entwickeln können.

Poppers Kritischer Rationalismus übt kaum oder noch nur sehr leisen Zweifel am Fortschrittsglauiben. Er unterstellt, daß etwa religiöse Bedürfnisse verschwänden, wenn die materiellen gedeckt seien und daß ein Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit sich zuletzt von selbst erledige, wenn durch die Mehrung des Wohlstandes jeder materiell gesichert sei. Dieser unbedingte Fortschrittsglaube eint ihn mit Liberalen und Marxisten. Im Zweifel am Fortschrittsglauben, an den grundsätzlich vernünftigen Menschen, nimmt der Konservativismus eine diametral entgegengesetzte Position ein. Die aktuellen Folgen einer Politik, die an hemmungslosen materiellen Fortschritt und Wohlstand glaubt und das auch innerhalb weniger Jahre wahrhaben möchte, sind ein Argument, das sicherlich nicht gegen die konservative Position spricht.

Und der Vorwurf des Verlustes an politischer Rationalität geht schon deshalb ins Leere, weil die großen politischen Entscheidungen — so oder so — keine im strengen Sinn rationalen Entscheidungen sein können. Rational läßt sich auch in der Politik diskutieren, ob ein bestimmtes Ziel überhaupt erreichbar ist, welche Mittel es erfordert und welche Konsequenzen seine Verfolgung haben würde. Aber wenn die Alternativen soweit geklärt sind, so geht die eigentliche politische Entscheidung um den Vorrang des einen oder des anderen von verschiedenen Zielen, um die Rangordnung verschiedener Werte und Interessen — und die kann selbst nicht rational sein.

Deshalb wird die Politik auch in Zukunft nicht umhin können, Emotionen zu mobilisieren, die jeden Stimmbürger aufruft, sieh über das Interesse für bestimmte Wertvorstellungen einzusetzen: Für den Wert von Arbeit und Leistung; den Glauben an Aufstieg; die Bejahung von Unterschieden zwischen Menschen und ihrer Lage; die Bejahung des Wettbewerbs; die Sparsamkeit als Fähigkeit, kurzfristige Befriedigung zugunsten langfristiger zurückzustellen; für den Respekt vor Besitz; für das Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung; für Prestige. So arm sind weder Konservativismus noch Christentum, das Bekenntnis zu diesen Werten herausstellen zu müssen.

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