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Sperrfeuer durchbrochen

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Es ist tatsächlich soweit gekommen: ein gebürtiger Berliner schrieb in den USA die erste umfassende, wissenschaftlich fundierte Biographie des bedeutendsten österreichischen Staatsmannes, der jemals aus einer christlichsozjialen Volkspartei hervorgegangen ist, der ein Preuße, Carl von Vogelsang, einmal das Fundament gegeben hat. Der gelernte Österreicher kann da nur noch vor dem Autor den Hut ziehen und sagen: Mein Kompliment, Herr von Klemperer! Um nachher allerdings bei sich Reu' und Leid zu erwecken: weil namhafteste Historiker aus Österreich, eine ganze Generation, es versäumt haben, während der 41 Jahre, die seit dem Tode Seipels vergangen sind, dieses wissenschaftlich und politisch bedeutsame, längst fällige CEuvre zu verfassen; weü bürgerliche und kleinbürgerliche Epigonen nicht ihren Kleinmut überwinden können, der sie hindert, das Sperrfeuer einer politischen Agitation zu durchschreiten, das von links her sowie aus der Tiefe des österreichischen Katholizismus rings um die Person des „Prälaten ohne Milde“ geschossen wird; und weil jetzt einmal mehr die beschämende Tatsache bekannt wird, daß die oft grandiose Qualität des Wortes des Priesters, Wissenschaftlers und Staatsmannes weder in der zuletzt von Josef Klaus geförderten Dokumentation noch in einer Biographie den Niederschlag in der Originalsprache gefunden hat. *

Der Autor verwendet Archivmaterial, wie es bisher noch niemals in diesem Ausmaß und mit der gleichen Gründlichkeit herangezogen worden ist, um bei der geschichtlichen Beurteilung Seipels endlich festen Boden unter die Füße zu kriegen. Was der Darstellung aber abgeht, das sind die Fittings zu einer auf der Höhe der Zeit befindlichen Geschichte der Christlichsozialen Partei, deren Spätkrise in die Ära Seipels fiel und der der Prälat noch einmal Halt verliehen hat. Dieses Manko ist allerdings weniger dem Autor als jenen anzulasten, die sich hierzulande allzulange damit abgefunden haben, daß eine herausfordernde Kritik an dieser Partei ohne kompetente Antwort geblieben ist.

Das geistige und politische Klima, das in der Zeit zwischen den Kriegen der Austromarxismus in Österreich verbreitete, ist dem Autor sichtlich vielfach fremd. Daher werden in seiner Darstellung viele Reflexe Seipels unverständlich, deren richtige Einschätzung die Sicht und die Kenntnis der spezifischen Radikalität der Sozialdemokratie in Österreich voraussetzen würde. Indem der Autor die Linke in ihrer Radikalität und monistischen Tendenz zuweilen unterschätzt, geraten die Beziehungen Seipels zur politischen Rechten der zwanziger Jahre in den Schlagschatten des jetzt modernen Sinistrismo. 1955 bereits hat Adolf Schärf „übereilte Beschlüsse und Nachlässigkeiten von verantwortlichen Funktionären“ der sozialdemokratischen Bewegung, wie sie zum Beispiel um den 15. Juli 1927 zutage kamen, gerügt und festgestellt, daß ohne diese Fehlleistungen die weitere Entwicklung in Österreich „eine völlig andere geworden wäre“. Daran ging der Autor ohne weitere Sondierung ebenso vorbei wie an der Tatsache, daß die von der Linken nach dem Justizpalastbrand neuerdings forcierte und mit dem Wirken des Priesterpolitikers Seipel in Zusammenhang gebrachte Förderung des Kirchenaustritts ihre Ursprünge schon in der Zeit nach 1918 hatte, als inbesondere Otto Glöckel eine radikale kulturkämpferische Agitation in Gang setzte und Kirchenaustritt sowie Konfessions-losigkeit als Merkmal eines Sozialdemokraten herausstellte.

Mit vi l Einfühlungsvermögen erkundet der Autor die von dem Wiener Moraltheologen Michael Pflieg-ler in den zwanziger Jahren aufgezeigte „Miß- und Kompromißform“ der Existenz des Priesterpolitikers. Erst 1953 hat Pfliegler attestiert, was in früheren hitzigen Polemiken zuweilen anders klang: daß nämlich Seipel mit voller Hingabe an die Aufgabe ein Politiker, aber auch ™anz und ohne Abstriche Priester war. In diesem Jahr 1973, da ein politisch engagierter Erzbischof Lateinamerikas, dessen politisches Image bei weitem krasser ist als jenes Seipels, für den Friedensnobelpreis genannt wird, denkt man in katholichen Kreisen da und dort anders über die Beziehungen zwischen Religion und Politik — ein wenig linksge-drallt und also weniger geneigt, Seipel gerecht zu werden. Der Kulturpolitiker wird bestätigen, was der Autor feststellt: daß nämlich der Kulturkampf im Österreich der zwanziger Jahre, insbesondere jener um die Problemkreise (1) Schule, (2) Ehe und (3) Beziehung Staat/Kirche, jenen Graben zwischen den Christlichsozialen und den Sozialdemokraten aufgerissen hat, über den Seipel bei dem letzten Versuch einer Begeg-nungrtüt Otto Bauer (1931^ nicht hin-wegkommen konnte. Die Ausklam-merung einer Lösung der drei genannten Streitfragen bei den Sini-gungsverhandlungen über die Verfassung 1920 sah damals zwar wie ein begründeter Akt realpolitischen Kalkulierens aus, erwies sich aber in der Folgezeit wie der Einbau von Sprengkammern in das Fundament der Republik. Erst in der Zweiten Republik kam 1962 der Schulkampf und der Streit um das Konkordat zu einem Ende. Das Eheproblem geriet in die moderne Übersteigerung, in der bereits die Legalisierung einer gewissen Promiskuität sichtbar wird. *

Vor 70 Jahren schrieb Seipel seine Habilitationsschrift über das Thema „Die wirtschaftlichen Lehren der Kirchenväter“. Sein Habilitationsvater Franz Schindler, Sachwalter der christlichen Sozialreform in der Erfolgsära Luegers, fand Seipels Ansichten zu „leidenschaftlich“. Seipel hat später den Kreisen um Voglsang und Schindler ihr „ZünfUeri-sches“ vorgeworfen und das Zögern vor dem Beschreiten von Wegen, die Seipel zu gehen bereit war. Denn für Seipel gab es keine Wirtschaftslehre des Christentums. Der Autor analysiert sehr gründlich diese Distanz, die Seipel vom moraltheologischen Standpunkt aus legte und die später A. M. Knoll in Staats- und gesellschaftspolitischer Hinsicht verallgemeinerte.

Wäre es möglich, Staatspolitik unter Ausschluß einer Kulturpolitik zu betreiben, dann wäre es Seipel vielleicht gelungen, über jene chinesische Mauer hinwegzukommen, die in den zwanziger Jahren die beiden Großparteien trennte. Denn der Prälat, der „bedeutendste Mann des österreichischen Bürgertums“ (Otto Bauer) war, was man jetzt einen „modernen Realpolitiker“ nennt. Der Autor erkundet diese Kapazität an Hand einiger interessanter Fälle: *

1922, anläßlich der von der Linken in der Öffentlichkeit maßlos diffamierten „Seipel-Sanierung“ riskierte der Bundeskanzler Seipel diesen Prestigeverlust, den der Parteiobmann Seipel später bei Wahlen zu spüren bekam, um nicht bei der parlamentarischen Verabschiedung des Ganzen das unerläßliche Laisser-faire seitens der Linken zu gefährden, ohne das die Aktion undurchführbar geworden wäre. Vorher, 1918 bereits, hatte der Theologieprofessor die Legalität einer aus der Revolution hervorgegangenen Regierung attestiert: angesichts des damaligen Dilemmas hochkonservativer Kreise, die den „Brotfrieden“ von Brest-Litowsk und die Divisionen der Ostfront für die Schwerpunktbildung im Westen brauchten, sich aber scheuten, mit den Bolschewiken an einem Verhandlungstisch zu sitzen. Nach dem 12. November 1918 war es wieder Seipel, der die von Lueger „schwarz-gelb bis auf die Kno'chen“ erzogenen Christlichsozialen in Wien auf dem Boden des Republik neu vergatterte. Und 1931, als der Radikalismus nicht mehr von links, sondern von rechts her drohte, versuchte der Prälat zusammen mit dem härtesten Gegner, Otto Bauer, den Haltepunkt am Rand der Katastrophe zu finden. Nichts ist für den Schrumpfprozeß des Politischen in Österreich bezeichnender als die Tatsache, daß es 1931 der Koalitionspolitiker Karl Renner war, der die eventuelle Entente Seipel-Bauer ver-; hinderte: daß aber Satter arn X August 1932 in “der “,ÄZ“ jenen Salut über das Grab seines größten Feindes feuerte und daß nach 1945 die Sozialisten angesichts des nun historisch gewordenen Phänomens Seipel auf die Mentalität Renners einschwenkten.

Für Seipel war das, was 1918 begann, ein Transitorium von unbekannter Dauer. Auf zehn Jahre schätzte er es einmal im Gespräch mit Kaiserin Zita. Aber dieses Transitorium ist heute noch nicht zu Ende und Österreich nicht an neuen Ufern. Seipel starb im Sommer 1932, kurz nach dem von den Konservativen herbeigeführten Sturz des Reichskanzlers Heinrich Brüning. Das folgende Pandämonium und die Kontrollrechnung der Geschichte über die Dauer des Transitoriums blieb ihm erspart.

Als Bruno Kreisky 1970 Bundeskanzler wurde, waren fast 40 Jahre seit der letzten Kanzlerschaft eines aus Wien gebürtigen Regierungschefs vergangen. In Österreich haben die Föderalisten ihren „Zentralismus“ fest in der Hand. Seipel, der gebürtige Wiener, fand die Startbahn für seinen politischen Aufstieg nicht in Wien. Der „Senkrechtstarter“ Seipel (1918 k. k. Minister, 1921 Obmann der CS Volkspartei, 1922 Bundeskanzler) bekam diesen Zugang in Salzburg und unter seltsamen Umständen, die der Autor ausführlich und interessant beschreibt. In dem Trifolium Ignaz Seipel, Heinrich Lammasch und Hermann Bahr entstand jene Begegnung, aus der heraus Lammasch im Spätherbst 1918 den Theologieprofessor in sein Kabinett, in die letzte k. k. Regierung des seit 1917 auch von amts-wegen „Österreich“ bezeichneten Staates holte.

Der langjährige Generalsekretär der CS Volkspartei Viktor Kolassa und der letzte Parteiobmann Emmerich Czermak haben dem Verfasser dieser Zeilen bestätigt, was aus dem vorliegenden Werk hervorgeht: Seipel war zu Zeiten einsam inmitten seiner Massenpartei, die unzählige Menschen wegen der Persönlichkeit des Prälaten gewählt haben, obwohl sie mit dem Signet der Persönlichkeit: katholisch, österreichisch, konservativ, christlich-sozial (A. M. Knoll) keineswegs vollends einverstanden sein konnten.

Das vorliegende Werk ist in englischer Sprache geschrieben und es wird wohl da und dort in der angelsächsischen Welt jenes Image korrigieren helfen, das nach 1945 Charles Gulick mit seinem Kolossalgemälde der Ära Seipel verbreitet hat. Von Klemperer hat nicht nur mit dem Image des „Prälaten ohne Milde“ und mit diesem willkürlich gebrauchten Wort-Insult abgerechnet; er hat längst verfärbte Flecken einer versuchten Dämonisierung sowie einer Dramatisierung der Größe entfernt, zumal solche, die bisher ernste Wissenschaftler und Politiker gehindert haben, sich mit der Person so zu beschäftigen, wie es der Autor tat: gründlich, ausführlich und wohl auch kritisch genug, um einen Touch von Sympathie unter Kontrolle zu halten. Das Buch wird im österreichischen Buchhandel um zirka 450 Schilling verkauft. Um diesen Preis wird es off limits sein: für junge Politiker und Politologen, denen es ansonsten eine Herausforderung für eigenes Forschen und Bemühen sein könnte.

Nicht auszudenken, welches politische Martyrologium einem Bundeskanzler der Linken rebus sie stantibus geschrieben würde, wäre er einmal, so wie Bundeskanzler Seipel, von einem verhetzten und verwirrten politischen Gegner angeschossen worden. Im Falle Seipels ist dieser gezielte Schuß eine peinliche Fatalität, die man besser vergißt. Was aber dennoch davon blieb, ist die Bitte Seipels zugunsten des damaligen Attentäters: Nicht schlagen, bitte nicht schlagen ... Dieser Ausdruck einer christlichen Humanität wird auch den späten Nachhall leidenschaftlich geführter politischer Polemiken überdauern, in denen Ignaz Seipel „mit der vollen Hingabe an die Aufgabe Politiker“ gewesen ist.

IGNAZ SEIPEL — Christian Sta-tesman in a Time of Crisis. Von Klemens von Klemperer. Prince-ton, USA, 1972. 468 Seiten, Verkaufspreis ca. 450 Schilling.

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