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Spielball Altstadt

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Beim Wiederaufbau unserer Städte nach dem Zweiten Weltkrieg sah man die Altstädte hauptsächlich unter technischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten und vernachlässigte die sozialen Prozesse. Infolge des ständig wachsenden Wohlstandes entstand die große Autowelle und damit die sehr viel größere Mobilität der Bevölkerung.

Das Bürgerideal des eigenen Hauses mit Garten auf dem Lande, des Einfamilienhauses, steigerte die Anti-Stadt-Gefühle. Die Innenstädte wurden von den hohen Einkommensklassen zuerst verlassen. Später folgten die anderen, manchmal freiwillig, aber öfter gezwungen. Die Innenstadt fiel in die Hände jener, die maximale Profite suchten. Makler, ökonomische Großmächte, Banken, Warenhäuser, Geschäfte, Zeitungen, Kinos und ähnliche drängten sich, eine möglichst günstige Stelle im Stadtzentrum zu erwerben. Maßstäblich zu große Elemente fingen an, die Feinkörnigkeit der Innenstadt anzugreifen.

Die größeren Geschäfte, die Bürobauten, zogen durch immer größere Nutzflächen (Bauen in die Höhe!) immer mehr Verkehr an, wobei die alte Straßenstruktur noch größtenteils erhalten blieb.

In einer weiteren Phase paßte man die alten Stadtgefüge an den Verkehr an. Methoden waren das Zuschütten von Wasserläufen und Befestigungsgräben, Durchbrechungen, Straßenverbreiterungen, Zerstörung von Parkanlagen. Verkehrslärm, Gestank, Staub, Verschmutzung erodierten die Stadt; die Abwertung der Altstädte zu Elendsvierteln hatte begonnen. Häuser wurden nicht mehr unterhalten, weil die Inhaber bzw. Bewohner aus Mangel an klaren Innenstadtplänen nicht zu investieren wagten.

Viele Gemeindebehörden kauften an wichtigsten und meist charakteristischen Straßenecken alte Häuser, um Sanierungs- und Verkehrsmaßnahmen durchführen zu können. Die Häuser wurden abgerissen, und auf die freigelegten Plätze wurden Autos hingestellt.

Und so geht's weiter: Die Inhaber der anstoßenden Häuser vernachlässigen ihren Besitz, die Preise sinken und die Grundstük-ke werden kurz darauf billig gekauft — von der Gemeinde, von Spekulanten oder Projekt-Entwicklungsfirmen. Weitere Häuser verkommen, und so wirkt der ganze Prozeß als eine sinkende Spirale.

Sanierung von Altstadtvierteln, das hieß bisher sehr oft: Deportie-rung der Bevölkerung. Die höheren sozialen Schichten hatten die Altstadt schon eher verlassen und sich auf dem Land niedergelassen auf ihren Einfamilienweiden. Sie waren sozusagen die Innenstadtdeserteure, die Trendsetter der ^Stadtverschlechterung.

Perikles hat schon 430 v. Chr. gesagt: „Bei uns heißt einer, der an den Dingen der Stadt keinen Anteil nimmt, nicht ein stiller Bürger, sondern ein schlechter". Die Bürger haben die Abwertung ihrer Städte als Naturgeschehen über sich kommen lassen, ohne Einspruch zu erheben.

Wenn die Bürger mit guter Ausbildung, guter sozialer Position und hohem Einkommen die Stadt verlassen, höhlen sie damit das städtische Leben aus. Die Bewohner der schlechtesten, aber sehr billigen Innenstadtwohnungen werden danach von Sanierungsmaßnahmen vertrieben.

So ist die Innenstadt in Westeuropa Spielball von Politikern, ökonomischen Mächten und Maklern geworden und verlor immer mehr an Identität. Dabei darf man aber niemals vergessen, daß die Neusiedlungen am Stadtrand ihre Merkmale und ihre Identität dem Zentrum der Altstadt verdanken.

Hier wird also das Unvermögen unserer Zeit, in neuen Stadtteilen etwas vom Wesen „echter Urbanität" sichtbar zu machen sowie die daraus resultierende mangelnde Prägekraft heutiger Neubauquartiere spürbar.

Dies führte zu der bemerkenswerten Tatsache, daß eine Stadt in den meisten Fällen auch jetzt noch mit ihrem historischen Kern identifiziert wird und nicht mit den großflächigen Erweiterungsgebieten, mögen dieselben ihrem Umfang nach auch ein Vielfaches der Altstadt ausmachen. Bei diesem psychologischen Faktum setzen wohl auch die zu beobachtenden großen Umkehrprozesse ein.

Der Autor ist Architekt in Wien und beschäftigt sich mit der Revitalisierung von Altstadtbauten.

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