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Spielwiese für einen Stalin 2005

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Nicht nur auf dem Mediensektor haben die Franzosen mit Konsequenz eine Spitzenstellung erreicht. Stolz sind sie auch auf ihre superschnellen Züge (TGV) und auf ihre Atomtechnik. In diesen Bereichen haben Staat und Industrie koordinierte Anstrengungen unternommen, um Spitzenleistungen zu vollbringen — und sie waren dabei offensichtlich erfolgreich.

Zwischen Paris und vielen Städten Süd-Ost-Frankreichs verkehren Schnellzüge mit Geschwindigkeiten von bis zu 280 Stundenkilometern. Die Passagiere steigen vom Flugzeug auf die Bahn um, die Züge sind ausgebucht, die Investitionen amortisieren sich in nur zehn Jahren. Rentabilität ist auch der Trumpf der Telekommunikation: Die Ausgaben werden in nur vier Jahren hereingespielt.

Und die Atomkraftwerke: Da ist Frankreich führend. In nur sechs Jahren stellen die Franzosen Kraftwerke fertig! Rascher als die Konkurrenz. Das wird im Chinageschäft zum Tragen kommen. Und billig ist der Atomstrom. Es gibt keine vernünftige Alternative.

Soweit die Vortragenden, Spitzenkräfte in Wirtschaft und Staat. Sie strahlen Zuversicht und Zufriedenheit aus. Exportzahlen und Nachfragesteigerungen scheinen ihre Haltung zu untermauern. Und wirklich: Betrachtet man alles nur wirtschaftlich, so erscheint Frankreich wirklich als technischer Musterknabe. Es wird geforscht, es gibt Pionierleistungen, Produktivitätssteigerungen, Exporte...

Gut und schön. Aber: Je produktiver und verflochtener eine Wirtschaft wird, umso verwundbarer ist sie. Je mächtiger eine Technik, umso bedrohlicher. Typisch ist die Atomtechnik: Verheerende mögliche Gefahren machen fehlerfreies Funktionieren zur unabdingbaren Voraussetzung. Wo aber Menschen am Werk sind, muß immer mit Fehlern gerechnet werden. Auf welche menschliche Vollkommenheit setzt doch Frankreich mit seinen 60 Prozent Strom aus Atomkraftwerken!

Auch wegen der Endlagerung der Abfälle sind die Experten zuversichtlich: Zehn Prozent der Entstehungskosten sind für Beseitigung des Atommülls und Abbruch der Kraftwerke vorgesehen? Und wenn das nicht reicht? Immerhin gibt es für beides noch keine erprobten Lösungen. Was bleibt dann aber von den großartigen Rentabilitätsrechnungen?

Auch der in Frankreich inszenierte Medienzauber sollte nicht nur wirtschaftlich beurteilt werden. Angenommen, alle Unternehmen haben sich auf elektronische Verbindungen, auf die

„intelligente Karte“ und den Verkauf via Bildschirm umgestellt, unnützes Verkaufspersonal wurde der Produktivitätsstatistik geopfert, in den Banken wurde das Terminal statt des teuren Schalterbeamten zur Aus-kunfts-„Person“: Und plötzlich streikt das System, sei es weil es fehlerhaft war (schließlich haben es Menschen entworfen), sei es durch Sabotage... Wo alles zusammenhängt, wirken sich Ausfälle verheerend aus. Frankreich wird produktiver, aber viel verwundbarer werden — in einer zunehmend unsicheren Welt.

Ob die Menschen glücklicher sein werden, wenn sie noch mehr vor Apparaten sitzen, mit Maschinen spielen, sich berieseln lassen oder obszöne anonyme Gespräche führen? Denn das Thema Nummer eins ist auch beim „Maskenball“ (siehe oben) das beliebteste. Und wer wird genug Zeit haben, um die 15 Fernseh- und 15 Hifi-Kanäle zu nutzen? Wohl die Arbeitslosen, die es ja dank konsequenter Rationalisierung in ausreichender Zahl geben wird. Ob sie sich aber den Luxus leisten werden können? Kaum, aber bis zum Jahr 2000 wird für ihn schon die Fürsorge als Teil des Existenzminimums aufkommen.

Und noch etwas: Erhalte Gott uns die Demokratie. Denn was hätte ein Hitler oder Stalin aus dem verwirklichten System der intelligenten Karte gemacht, die sich jede Ausgabe merkt, die man im Zweistundentakt in den nächstgelegenen Automaten stecken könnte?

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