7000989-1987_25_08.jpg
Digital In Arbeit

Sprachinsel an der Moldau

Werbung
Werbung
Werbung

Die von der deutschen Sprache längst und unfreiwillig verlassene literarische Landschaft an der Moldau war vom 1. bis 3. Juni zum ersten Mal seit 22 Jahren wieder ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt. Auf Einladung der Franz Kafka-Gesellschaft berichteten Wissenschafter über ihre Forschungsergebnisse zum Thema „Prager deutschsprachige Literatur zur Zeit Kafkas“.

Der Generalabt des gastgebenden Augustinerchorherrnstifts Klosterneuburg, Gebhard Kober- ger, begrüßte die Symposionsteilnehmer mit dem Dank, den die Kirche dem größten aller Prager Dichter schulde, weil er „auf die Wunden der Menschheit hingewiesen“ habe.

Die Auseinandersetzung mit ihnen und die Bewältigung des daraus resultierenden Leids als eine der grundlegenden Fragen der Ethik und Religionsphilosophie gehören zu den bestimmenden Merkmalen der „Prager deutschen Literatur“, genügen aber den Definitionsversuchen dieser oft als Phänomen verstandenen „Sprachinsel“ genausowenig wie die in den Vorträgen genannten Kriterien,.Mystik“, „Vergangenheit“, „Beziehungen zu Kafka“. Auch die ethnisch-politische Situation sowie die der deutsch-jüdischen Minderheit können nur Teilaspekte für die Beantwortung der Frage nach der prägenden Einzigartigkeit von Prags künstlerischer Zeugungskraft sein.

In den Vorträgen des Symposions wurden die unentwirrbaren Verflechtungen, die eine Eingrenzung so schwierig machen, besonders deutlich. Der Beitrag des in Brighton lebenden Eduard Gold- stücker über „Karl Kraus und Prag“ und das Referat Kurt Kro- lops aus Ost-Berlin über die „Prager Autoren im Lichte der Vorkriegsfackel“ beleuchteten das Ausmaß der kritischen An teilnahme des „Wiener Giftmischers“ Karl Kraus an seinen Kollegen aus der Moldaustadt.

Jürgen Born aus Wuppertal widmete sich dem literarischen Freundeskreis um Willy Haas. Peter Engel aus Hamburg unternahm den Versuch, die von Zeitgenossen überlieferten Irrtümer zur Person des Brünner Dichters Ernst Weiß zu korrigieren. Leben und Werk des bisher von der Literaturwissenschaft kaum beachteten Leo Perutz skizzierte Hans-

Harald Müller aus Hamburg unter besonderer Berücksichtigung des Prag-Romans „Nachts unter der steinernen Brücke“.

Eiöd Haläsz aus Budapest wies eine Symbolenparallele bei Franz Werfel und dem Ungarn Gyula Krüdy nach, der mit seinem Roman „Die rote Postkutsche“ erst in den sechziger Jahren Eingang in die westliche Literatur gefunden hat.

Hartmut Binder aus Stuttgart überraschte mit dem gewagten Versuch, den mit zwei Gedichten hervorgetretenen Mitschüler Johannes Urzidils, Jan Gerke, als einen Vertreter der Prager deutschen Literatur vorzustellen. Michel Reffet aus Metz interpretierte am Beispiel des Golem-Motivs den Mythos in Werfels Werken als „Angst vor Versteinerung“. Mit dem anspruchsvollen Vergleich der „Chancen und Grenzen der Willensfreiheit“ zeigte Jost Schil- lemeit aus Braunschweig Gemeinsames und Trennendes im Denken > der Freunde Max Brod, Felix Weltsch und Franz Kafka auf.

Der in den USA lebende Roman

Karst wies auf die Brüchigkeit der Welt in „Gustav Meyrinks Traumbildern“ hin, die er als „psychologische Wirklichkeit“ ansieht. Sir Malcolm Pasley aus Oxford betonte in seinem Referat über Brods und Kafkas gemeinsame Reisen Brods Bedeutung als Förderer von Kafkas literarischer Produktivität. Im Herbst wird der von Pasley edierte Band „Reiseaufzeichnungen“ von Max Brod und Franz Kafka erscheinen.

Pasleys Mitarbeiterin Hannelore Rodlauer aus Wien brachte Stichproben zur „Präsenz der Prager Literatur“ in allen deutschsprachigen Kulturzentren, vor allem über Kafkas Berührungen mit der Wiener Literaturszene. Interesse und Zustimmung erweckte ihre These, der vergessene Wiener Bettelpoet Ottfried Krzyzanowsky, dem Kafka wahrscheinlich im Cafe Central begegnet war, sei für den „Hungerkünstler“ Modell gestanden. Barbara Köpplovä aus Prag sprach über die „Rolle der Kulturrubrik der Prager Presse“.

Die Tatsache, daß in dem von Männern dominierten Forschungsgebiet heuer zum ersten Mal auch Frauen zu Wort kamen, scheint genauso bemerkenswert wie die bis jetzt gepflogene Verleugnung des Anteils der Frau an der Prager deutschen Literatur.

Eine von Renate Lerperger sorgfältig zusammengestellte Max-Brod-Ausstellung in der Wiener Nationalbibliothek bildete einen wichtigen Teil der Veranstaltung. Für diese erstmals erfolgte Würdigung Brods durch eine Ausstellung hatte seine anwesende langjährige Mitarbeiterin und Erbin Ilse Ester Hoffe aus Tel Aviv einen Großteil der Exponate zur Verfügung gestellt. Die Veranstaltung brachte wichtige neue Ansätze für die weitere wissenschaftliche Arbeit.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung