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Sprachlose Nöte der Gesellschaft

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Am Sonntag, 4. Mai, bittet die Caritas in den Kirchen um Spenden für Mütter in Notsituationen. Daß Mütter auch in unserem Land in Not geraten können, hat viele Ursachen. Aber nicht alle sind bekannt, wie überhaupt in unserer Zeit neben den alten neuen Formen der Not entstanden sind.

Zu den Alltagsmythen einer Wohlstandsgesellschaft gehört die Überzeugung, daß für den Tüchtigen Armut in ihr nicht existiere. Außerdem ist das System der sozialen Leistungen durch die öffentliche Hand hierzulande so ausgebaut, daß es mit seinem Netz sogar noch die sogenannten Untüchtigen und nicht Leistungsfähigen erfaßt.

Aber es gibt Armut in Österreich, und es gibt die Nöte, welche die Wohlstandsgesellschaft erst hervorgebracht hat. Die Ausfallsquote einer Gesellschaft von ansonsten Tüchtigen ist in dem Maß hoch, in dem Menschlichkeit in ihrem regulierten Ablauf ausfällt.

So gehört es wohl zum allgemeinen Wissensstand des Staatsbürgers, daß an den Grenzen des Wohlstandes auch in unserem Land Not auftreten kann -durch kleine Renten, die Hilflosigkeit des Alters, durch Kinderreichtum, durch Krankheit. Alles das ist bekannt und akzeptiert.

Es gibt hierzulande aber auch noch Formen einer Not, die nicht akzeptiert werden, weil sie abstoßend, aggressiv oder selbstverschuldet sind. Und das ist eine sprachlose Not, weil sie nicht gewürdigt wird.

Arme sind nämlich auch Haftentlassene, die am Mißtrauen scheitern; Alkoholiker, die in der Hilflosigkeit ihrer Krankheit verkommen und mit ihnen ihre Familien; Arme sind solche, die an einer Erwerbstätigkeit nicht mehr interessiert sind, weil sie irgendwann den Anschluß an die Gesellschaft verpaßt haben.

Armut entsteht auch dann, wenn Personen, die eigentlich ein durchschnittliches Einkommen beziehen, in Neubauten angesiedelt werden und die sich dort hoffnungslos verschulden (wie Wohlstand der Umwelt überhaupt durch seinen sozialen Zwang zur Nachahmung auch Armut erzeugen kann).

Not entsteht, wenn geschiedene oder verlassene Mütter sich aus Angst vor der Brutalität der Männer nicht getrauen, die staatlich garantierte Unterstützung einzufordern. Not entsteht, wenn Familien mit körperbehinderten oder geistig behinderten Kindern von einer gleichgültig oder nur zu oft aggressiv reagierenden Umwelt isoliert und sich selbst überlassen werden. Arm sind Familien, deren Erhalter inhaftiert ist.

Armut entsteht aber auch dann, wenn Personen oder ihre Familien durch Drogenabhängigkeit vereinsamen und durch die Beschaffenheit der sogenannten Drogenszene in die Kriminalisierung abgleiten. Vermutlich gibt es 10.000 Drogenkranke in Österreich. Und das vielleicht deswegen, weil die Flucht in den Rausch auch die Abkehr von einer erlebnisarmen Gesellschaft sein kann, die nur noch automatisch funktioniert, und weil die menschliche Beziehungslosigkeit der Gesellschaft durch die Geborgenheit in einer Gruppe Gleichgesinnter (Drogenabhängiger) ersetzt wird.

Das Problem ist hier, daß eine Gesellschaft, in der hohe Prozentsätze sich an legalisierten Drogen und Medikamenten betäuben und berauschen und in der Alkoholkonsum-Geselligkeit forciert fördern muß, ihre eigenen krank machenden Konditionierungen nicht erkennt.

Vor einer Wiener Pfarrkanzlei hängt folgender Verweis an die Armen: Geldsorgen lösen sich von selbst, wenn man einer geregelten Arbeit „nachgeht”. Diese Abweisung mag für den systemgerechten Regelfall gerechtfertigt sein, sie ist aber zur selben Zeit auch ein Hinweis darauf, wie wenig bewußt sich die kirchliche Gemeinschaft des Phänomens der neuen Nöte der Gesellschaft vielfach noch ist, und wie gering ihre Fähigkeit oder Bereitwilligkeit ist, darauf einzugehen.

Die Phantasie der Nächstenliebe ist es, Wege zur Armut zu finden und Auswege aus ihr zu suchen. Einer dieser Wege ist die Bejahung und Unterstützung von Institutionen, weiche die vielen Formen der Armut aufzufangen versuchen. Es kann eine derartige Unterstützung aber nicht der Rückzug aus der persönlichen Verantwortung sein. Und wenn diese Institutionen nicht zu Amtsstellen der Gezeichneten werden sollen, ist es der Weg des Christen, sich mit den Armen zu solidarisieren.

Deswegen müßte der persönliche Lebensvollzug des Christen eine Gesellschaft mitformen, die offen und fähig ist, menschliche Not besonders durch persönliche Zuwendung gutzumachen. Es ist der kreative Aspekt der Nächstenliebe, daß sie den Christen befähigt, in seiner Nachbarschaft und besonders in seiner Pfarrgemeinde Gemeinschaften zu schaffen, in denen menschliche Nöte wahrgenommen, mitgetragen und bewältigt werden.

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