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Sprünge über den Schatten

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Das habe sie sich gedacht, ruft die kleine Schwester, sie habe gefürchtet, daß er beim Klimpern ist.

Der Bruder schaut von den Klaviernoten auf und versucht zu begreifen, was Rosemarie von ihm will.

Sie dürfe nur aus dem Haus, wenn er sie begleite, das Kino fange pünktlich um fünfzehn Uhr an.

Ein Kino, sagt er, käme jetzt nicht in Frage, ihm fiele eben etwas Gewaltiges ein. Er habe neue Spannungen wahrgenommen. Die Wahrnehmung müsse er frei von Eindrücken halten.

Rosemarie schreit den Dreizehnjährigen an. Ihre Freundinnen hielten ihn für verrückt, weil er die Tage am Klavier verbringe; er könne alle die Noten wiederfinden, auch wenn er zwei Stunden mit ihr im Kino sei.

„Irrtum“, sagt Rupert. Er intoniert ein C. Um Spannungen zu entdecken, brauche es Zugang zu Gestaltungsgrundsätzen; Gestaltungsgrundsätze blieben meist unsichtbar; manchmal erfahre man sie durch das Ohr, das seien Momente von großer Eindringlichkeit. Es ängstige ihn, daß die Zeit so schnell vergeht. An jedem Abend sei immer weniger da. Wie das Melodische still zu stehen scheine, in Wahrheit aber ein reißender Schmelzstrom sei, sei auch das Menschenleben im Fluß gehalten; alles geschehe auf eine ähnliche Weise.

„Prediger! Prediger! Prediger!“ ruft die Schwester; es erbittert sie, daß sie ohnmächtig ist.

Die Rankenverbindung, sagt Rupert, Erriete ihm Klänge, die noch nicht aufgestellt, aber möglich wären.

Er rede, als sei er so alt wie die Kerzenfrau.

Alter, erwidert er, sei keine Frage der Jahre, sondern eine Frage der Wahrnehmbarkeit. Wer den Balladengedanken im Trio erfahre, der sei so alt, daß er beinah gestorben ist.

Der Expreßbriefträger fragt das Kind, ob hier eine Frau Käthe Hebenstreit wohne, am Türschild stehe der Name „Oberau“.

„Das ist meine Oma“, sagt Katja, „geben Sie her.“

Sie trägt das Kuvert zum Fami- lien-Mittagtisch. Oma ißt weiter. Sie meint, man würde ja sehn, sie habe bei einem Wettbewerb mitgemacht, möglich, daß der Brief einen Hinweis enthalte.

Die Familie wartet auf das Auto, die Einbauküche, die Istanbul- Reise, den Fernsehapparat.

„Schau nach!“ drängt der Vater.

Die Oma setzt Brillen auf.

„Wir freuen uns“ — liest sie vor — „Ihnen mitzuteilen, daß Sie den Preis unsrer Zeitschrift gewonnen haben. Wir bieten Ihnen den Korrespondenzposten an, der Ihrer im- Aufsatz geäußerten Meinung entspricht. Wir stellet uns Ihre ständige Mitarbeit vor im Umfang von mindestens zehn Wochenstunden. Bezahlung erfolgt laut Journalistengesetz. Herzlichen Glückwunsch, Redaktion Jugend heute.“

. Eine Stille, in der man die Luft streichen hört, geht dem Gelächter der Familie voraus.

„Du lehnst natürlich ab!“ prusten Vater und Mutter.

Die Oma erwidert, das werde sie nicht tun. Immer schon habe sie Erfahrungen mitteilen wollen,

doch niemals Gelegenheit zum Vollzug gehabt; da man nun anscheinend ihre Einfälle schätze, wolle sie’s ausnützen in den verbleibenden Jahren.

Sie warten unterm Vordach den Regen ab und richten ihr In- teresse-auf s Käsemachen. Wo habe der junge Schafhüter das gelernt?

„Aus Büchern“, sagt er; es gäbe Literatur, die sich mit der Verwertung von Almmilch befasse.

Was er im Winter ohne die Schafe mache?

Im Winter sei er auf Beobachtung aus, er habe sich’s angewöhnt, alles zu notieren, die kleinsten Veränderungen von Boden und Licht, dafür verwende er eine Menge Zeit.

Ob er heimlich auf Schriftstellerei trainiere?

„Nein“, sagt der Schafhüter, nein, das locke ihn nicht. Wenn er demnächst zurückkehre in die Stadt, werde er, wie zuvor, Physik studieren; er habe sein Studium nur unterbrochen, weil Hirnarbeit allein nicht förderlich sei; beim Studium würden Gefühlskräfte minder bedacht; er wolle aber das Fühlen nicht ganz verlieren. - - - »

Und warum Schafe? möchten die Ausflügler wissen.

Weil sich das mit der Hütte ergeben habe, Hütten würden mit Inhalten offeriert; die Tierpflege ginge ihm auch recht gut von der Hand.

Und die Physik? Tue es ihm nicht leid, das beste Alter für Pausen herzugeben?

Es sei sehr fraglich, ob’s eine Pause sei; im Almleben stellten sich andere Gesichtspunkte ein. Das mit dem Alter sei kein fester Begriff. Es habe in der Historie

Zeiten gegeben, da habe keiner sein Alter genau gekannt, nur heute versuche man Menschen zu tyrannisieren, indem man sage, sie seien zu alt und zu jung. Mozart habe als kleines Kind komponiert, Fontane habe mit sechzig zu schreiben begonnen, Picasso habe mit achtzig gemalt. Die Pause sei dazu da, sich selbst zu begreifen.

Es tue ihm leid - beginnt das Gespräch der Sohn — daß er der eigenen Mutter Vorwürfe mache. Sie sei daran schuld, sie breche aus der Norm aus, beanspruche jetzt, was sie später bereuen werde. Sie habe sich diesen jungen Geliebten genommen, verreise mit ihm, gehe mit ihm in die Bar, das stoße die Freunde des Hauses vor den Kopf; man warte darauf, daß sie wieder zu sich finden werde. Sie könne sicherlich noch einmal heiraten, bei ihrem Aussehen wäre das kein Problem! Mit einem Mann, bei dem sie behütet sei; damit käme er, ihr Sohn, von der Sorge los.

Die Mutter scheint keineswegs beleidigt zu sein. Behütet wäre sie lange Zeit gewesen, da mm ihr Partner, der Vater, gestorben sei, wolle sie auch dessen Freunde auf Abstand halten. Das würde bezüglich der Rückwärtsschau nichts verwirren. Das Fernglas in die Vergangenheit sei da, sie schaue häufig und gerne durch dieses Glas, nur wäre damit für die Zukunft wenig getan. Sie habe im Leben einiges nicht erfahren, das setze ihr zu, noch gäbe es dafür Zeit; sie habe die Hälfte ihres Lebens gelebt, die andere Hälfte solle der ersten nicht gleichen. Mit siebzehn habe sie tanzen gehen wollen, der Vater habe zum Restaurant tendiert. Ihr hätte ein Zelt für die Ferien gefallen, der Vater jedoch bevorzugte das Hotel. Sie habe für Film und der Vater für Oper geschwärmt. Es stimme'trotzdem: die Ehe sei gut gewesen, sie habe sich auf den Gatten eingestellt; nun aber sei dieser Gatte nicht mehr da, das zwinge sie, den persönlichen Raum zu erweitern.

Ob das nicht mit Enttäuschung verbunden sei?

„Möglich, gut möglich!“ räumt die Mutter ein. Wenn sie aber das Fragliche nicht erfahre, wie könne sie dann beurteilen, wie es ist? Sie habe den Sprung über den Schatten getan. Der verschwimmende Altersbegriff sei ihr Beistand gewesen.

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