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Sptate Saat

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Eine umfassende Übersicht dessen was Musil als wertsetzender Denke: zu sagen hat, bietet Marie-Louise Roth in dem Buch „Robert Musil — Ethik und Ästhetik“. Die Verfasserin, Professorin an der Universitäl des Saarlandes in Saarbrücken, lei-tet die dortige Arbeitsstelle füi Robert Musil-Forschung und belegt die entsprechende Spezialkenntnis sowohl auf dreihundert zitatenrei-chen Textseiten wie auf zweihundert Seiten Anmerkungen und Bibliographie. Der Anhang bringt einiges Unbekannte aus dem Nachlaß.

Kennzeichnend für den Denker Musil ist ein bewegliches Zusammenspiel ethischer und ästhetischer Betrachtungsweisen mit der Tendenz zum Ausgleich von Gefühl und Verstand, Natur und Geist. Als Gegenspieler Ludwig Klages', der im Geist den Widersacher der Seele erblickte, hat er das förderliche Wort geprägt: „Wir haben nicht zuviel Verstand und zuwenig Seele, sondern wir haben zuwenig Verstand in den Fragen der Seele.“ Sein großer seelen-kundlicher Verstand ließ ihn die Forderung nach einer von starren Regeln befreiten dynamischen oder funkfftifelen MMsA erhebert.-Mari^ Louise Roth weist die starke utopische Komponente in Musils Denken nach, seinen Glauben an die Bestimmung des Menschengeistes, die Wirklichkeit zu gestalten, einen Glauben, der ihm die in Frankreich erörterte Idee eines Syndikalismus der Geistesarbeiter sympathisch machte. Der im monarchischen Österreich Aufgewachsene erkannte: „Demokratie ohne besondere Einrichtung zur Willens- und Geistbildung ist unmöglich.“

In der Kunstbetrachtung wird die quasi osmotische Beziehung zwischen Musilscher Ethik und Ästhetik vollends deutlich. Seinem Dichterrang gemäß darf er von der Dichtkunst und ihrer Aufgabe eine hohe Meinung haben. „Lockende Vorbilder, wie man Mensch sein kann“, soll der Dichter erfinden, „Lebenslehre in Beispielen“ aufstellen. Daß dazu viele, verschiedenartige Vorbilder miteinander im Wettbewerb stehen, scheint Musil an diesem Postulat nicht irre zu machen. Dabei hat er für die zeitgenössische literarische Wirklichkeit durchaus kein günstiges Vorurteil: „Es ist ein babylonisches Narrenhaus; aus tausend Fenstern schreien tausend verschiedene Stimmen, Gedanken, Musiken gleichzeitig auf den Wanderer ein, und es ist klar, daß das Individuum dabei der Tummelplatz anarchischer Motive wird und die Moral mit dem Geist sich zersetzt.“

Weniger problematisch sind die speziellen ästhetischen Überlegungen, in denen die von Christian von Ehrenfels begründete Ganzheitsoder Gestaltspsychologie fruchtbar geworden ist. Es überrascht kaum, wenn der Verfasser des Experimentromans „Der junge Mann ohne Eigenschaften“ den Essay als Dichtungsgattungen behandelt und im Essayismus geradezu den Inbegriff gestaltenden Denkens sieht. Daher auch seine Wertschätzung des ihm dichterisch gewiß nicht ebenbürtigen Franz Blei als eines Musterfalls essayistisch biegsamer Geistigkeit.

Marie-Louse Roth vermerkt den in der letzten Lebenszeit Musils sich vertiefenden Zwiespalt zwischen seinen gedanklichen Neigungen und seinem Dichtertum. Er selber fand, seinen Schöpfungen fehle das Appellative, die totale Geste. Dahinter stand die Hoffnung, einma doch gehört zu werden: „Thomas Mann und ähnliche Menschen schreiben für die Menschen, die da sind; ich schreibe für Menschen, die nicht da sind.“ Der erste Teil dieses Satzes mag aus dem Leiden am eigene Mißerfolg zu erklären sein. (Der erfolgreiche Thomas Mann war immerhin auch ein denkender Dichter.) Aber etliches von Robert Musils Gedankensaat wird wohl tatsächlich erst bei kommenden Geschlechtern aufgehen.

ROBERT MUSIL — ETHIK UND ÄSTHETIK: Zum theoretischen Werk des Dichters. Von Marie-Louise Roth. Paul-List-Verlag, München 1972.

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