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Staatsschuld hat Tradition

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Nicht nur Länder der Dritten Welt, auch die Industrieländer stecken immer tiefer in den roten Zahlen. Die Geschichte der Verschuldungen erzählt folgender Beitrag.

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Nicht nur Länder der Dritten Welt, auch die Industrieländer stecken immer tiefer in den roten Zahlen. Die Geschichte der Verschuldungen erzählt folgender Beitrag.

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Der moderne Steuerstaat erlebte bisher drei Krisen: Die erste während der napoleonischen Kriege, die zweite im Laufe des Ersten Weltkrieges und die dritte Mitte der siebziger Jahre. Der Steuerstaat ging immer wieder bis an die jeweiligen Grenzen der Besteuerung. Konnte er den Steuerwiderstand nicht brechen, so schlug er den Weg des geringsten Widerstandes ein und verschuldete sich.

Er fürchtete sich nämlich vor den politischen Spannungen, die mit einer Sanierung der Staatsfinanzen verbunden sind. Drohte ihm bei seiner Schuldenwirtschaft die Zahlungsunfähigkeit, so raffte er sich jeweils auf, einen

Ausweg aus seiner Finanzkrise zu suchen.

Die enorme Verschuldung während der napoleonischen Kriege hatte die meisten Staaten an den Rand des finanziellen Ruins geführt. Sie zogen daraus Konsequenzen. Zum einen richteten sie Tilgungsfonds ein, die sie mit — zweckgebundenen — neuen Einkünften speisten. Zum anderen kamen neue Grundsätze der Staatsverschuldung zum Zuge.

Die liberale oder klassische Verschuldungsregel lautete bis zu den 1930er Jahren: Kredit nur für rentable Investitionen! Diese werfen einen Ertrag ab, der für Verzinsung und Tilgung der Schuld eingesetzt wird.

Doch schon in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wurde der Tilgungszwang gelockert, und es kam auch bald einmal wieder zu Neuverschuldungen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahmen die Staatsschulden vorrangig infolge der öffentlichen Unternehmertätigkeit zu. Damals wurden die kommunalen Versor-gungs- und Verkehrsunternehmen auf- und ausgebaut. Gleichzeitig sah sich der Staat gezwungen, sich am Eisenbahnbau zu beteiligen und nichtrentable Eisenbahnlinien — im öffentlichen Interesse — zu verstaatlichen. Er verschuldete sich also für den Ausbau der Infrastruktur, was das wirtschaftliche Wachstum förderte und auf die Dauer mit wachsenden Staatseinnahmen verbunden war.

Diese Staatsverschuldung wurde in der Regel schon deshalb verkraftet, weil die Volkswirtschaften vor allem während des langfristigen Aufschwungs zwischen Mitte der neunziger Jahre und dem Ersten Weltkrieg rasch wuchsen. Die Staatsschuld verlor so relativ an Bedeutung.

Während des Ersten Weltkrieges erreichten die Staatsschulden ein derartiges Ausmaß, daß es aussichtslos erschien, diese Schulden mit Steuern zu tilgen. Damals prophezeite Rudolf Goldscheid den Untergang des Steuerstaates und schlug vor, diesen durch mehr Erwerbseinkünfte zu sanieren.

Der Steuerstaat reagierte mit der Einführung der Umsatzsteuer und der Körperschaftssteuer, richtete Tilgungsfonds ein und erhob Tilgungssteuern. In einigen Ländern kam es allerdings zu einer Hyperinflation und zu Währungszerrüttungen und -schnitten. Doch die Hochkonjunktur der 1920er Jahre verschaffte dem Steuerstaat rasch wachsende Einnahmen und entlastete ihn von seinen Schulden. Er erlebte eine beachtliche Renaissance.

Im Laufe der Weltwirtschaftskrise wurden die Schleusen der Staatsverschuldung unter dem Einfluß von John Maynard Key-nes und der Massenarbeitslosigkeitendgültig geöffnet. Der Staat übernahm nun die Verantwortung für die Vollbeschäftigung.

Gleichzeitig wurde auch eine Verschärfung der Steuerprogression verlangt: Die Bezieher hoher Einkommen würden zu wenig konsumieren und so die Konsumgüternachfrage und die Beschäftigung beeinträchtigen. Daher sei es angezeigt, über progressive

Steuern umzuverteilen, um die Kaufkraft der unteren Einkommensschichten zu stärken.

Der Zweite Weltkrieg erzeugte erneut eine hohe Staatsverschuldung. Gleichzeitig wurden neue Steuern eingeführt und/oder alte Abgaben massiv erhöht: Die Steuerbelastung überschritt zum ersten Male die 50-Prozent-Gren-ze.

Von wenigen Ausnahmen wie zum Beispiel Deutschland abgesehen, blieb eine Krise des Steuerstaates aber aus: Der langfristige Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit, der bis Anfang der siebziger Jahre dauerte, schaffte geradezu ideale Voraussetzungen zur Bewältigung des Schuldenberges des Zweiten Weltkrieges.

Die dritte Krise des Steuerstaates zeichnete sich schon Anfang der siebziger Jahre ab und brach mit dem Bruch des Wachstumstrends der Nachkriegszeit aus: Es kam sofort zu strukturellen Defiziten in den Staatshaushalten. Die Staatsausgaben wachsen seither im Trend rascher als die laufenden Einnahmen.

Die prallen Staatskassen verleiteten durchwegs dazu, die Folgekosten von öffentlichen Investitionsprojekten, aber auch von sozialorientierten Gesetzen zu vernachlässigen. Es wurde jeweils angenommen, die Folgekosten ließen sich ohne weiteres finanzieren. Dazu gaben nicht zuletzt optimistische Prognosen bis zum Jahre 2000 Anlaß. Noch Anfang der siebziger Jahre wurde mit einer Fortsetzung des raschen Wirtschaftswachstums der Nachkriegszeit über die achtziger Jahre hinaus gerechnet.

Der Autor ist Professor für öffentliche Finanzen an der Universität Fribourg, sein Beitrag ein Auszug aus „Epoche".

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