Berufsbildung muss neu gedacht werden
Die überbewertete Akademisierung erhöht den sozialen Abstand zu den Lehrberufen. Diese verdienen längst mehr Ansehen, statt als Sammelbecken von Studienabbrechern angesehen zu werden.
Die überbewertete Akademisierung erhöht den sozialen Abstand zu den Lehrberufen. Diese verdienen längst mehr Ansehen, statt als Sammelbecken von Studienabbrechern angesehen zu werden.
Wer hätte vor wenigen Jahren noch gedacht, dass uns nicht die Arbeit ausgeht, sondern die Arbeitskräfte? Die Erledigung von Routinearbeit durch Maschinen sowie die sprunghaften Produktivitätsfortschritte durch Robotisierung und Digitalisierung ließen erwarten, dass es unumkehrbar zu struktureller Arbeitslosigkeit kommen würde. Ausgeblendet blieb, dass all die arbeitssparenden maschinellen oder digitalen „Tools“ erfunden, erzeugt, weiterentwickelt und gewartet werden müssen und mit den Innovationen auch ganz neue Berufsbilder entstehen.
Weitgehend unterschätzt wurde zugleich die Beständigkeit all jener persönlichen Arbeiten, die eben nicht durch Maschinen ersetzbar sind. Gemeint sind damit nicht nur die so wichtigen Sozial-, Lehr- und Pflegeberufe, sondern auch all jene Tätigkeiten, in denen der persönliche Einsatz, die gesammelte Erfahrung und das konkrete handwerkliche Tun trotz maschineller Unterstützung im Zentrum der Leistungserbringung stehen. Heute fehlen auf dem österreichischen Arbeitsmarkt mehr als zweihunderttausend Fachkräfte.
Ohne Not verlängerte Ausbildungswege
Dazu kommt das Ausscheiden der geburtenstarken Jahrgänge, das gerade in den Lehr-, Gesundheits- und Pflegeberufen zu besonderer Personalknappheit führt. Dieser vorhersehbare demografische Trend wurde durch in den letzten Jahren ohne jede bildungspolitische Not vorgenommene Verlängerungen der Ausbildungswege massiv verschärft. Aus dem Ehrgeiz, in europäischen Vergleichsstatistiken von Akademikerquoten zu punkten, entstand der sachfremde Trend, vor viele berufliche Einstiege, für die bisher Fachausbildungen ausreichten, das Erfordernis eines Bachelor-Studiums zu stellen. Diese kopflastige Verlängerung der Zeit bis zum beruflichen Einstieg benachteiligt jene jungen Menschen, die auch ohne solche Akademisierungsweihen über zuvor jahrzehntelang bewährte Bildungswege ausgezeichnet einsetzbar wären.
Zudem erhöht die überbewertete Akademisierung den sozialen Abstand zu der Vielfalt all der Lehrberufe, die Absolventinnen und Absolventen von Pflichtschulen offenstehen. Sie mit dualer Bildung und späteren Einstiegsmöglichkeiten in vertiefende Studiengänge anzureichern, ist sinnvoller, als verlängerte Schulbänke zwanghaft vorzuschreiben, bevor praktisches Tun beginnen kann. Die Lehre als Ausbildungsweg verdient längst eine Aufwertung im sozialen Ansehen, statt, wie das allzu häufig geschieht, als Sammelbecken von Studienabbrechern angesehen zu werden.
Der bloße Ruf nach mehr Aufnahmen von Immigranten – so sehr er in ausgewählten Teilbereichen Abhilfe schaffen mag – wird für die Lösung des Fachkräfteproblems ebenso wenig ausreichen wie die begrüßenswerten Konzepte zur Flexibilisierung des Weges in die (Teilzeit-)Pension. Es bedarf darüber hinaus eines neuen Zugangs, der von einem Menschenbild geprägt ist, das auf ganzheitliche Bildung von Hirn, Herz und Hand setzt. Realistische Reformkonzepte sind gefragt, die den tatsächlichen Erfordernissen wieder näher kommen.
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