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Stadtlandschaft

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Zwischen den Industriewolken der VOEST-Stahlwerke und der Hügelkuppe des Pöstlingbergs. Ein Essay über die nüchterne aber ehrliche Stadt Linz.

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Zwischen den Industriewolken der VOEST-Stahlwerke und der Hügelkuppe des Pöstlingbergs. Ein Essay über die nüchterne aber ehrliche Stadt Linz.

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Ich bin zu spät gekommen, das Konzert im Großen Saal des Brucknerhauses hat schon begonnen. Man wird mich nicht mehr einlassen, ehe die erste Nummer des Programms beendet ist, eine große Symphonie unter einem berühmten Dirigenten. Ich bin ärgerlich und traurig. Man weist mich an, im Foyer zu warten.

Ich kenne den Raum, ich bin schon oft hier gewesen, in der großen, hohen, halbkreisförmig geschwungenen Wandelhalle. Meist war es schon Nacht, wenn ich hier eine Konzertpause verbrachte. In den hohen Scheiben der äußeren Glaswand spiegelten sich die Deckenleuchten wie sanfte Monde, während draußen die Lichter der Stadt funkelten. Heute ist es anders. Der Juniabend hat eben erst zu dämmern begonnen. Wie auf überbreiter Leinwand rollt sich mir der Film der Stadtlandschaft auf. Ich stehe, schaue, staune.

Seit zwanzig Jahren lebe ich hier in der Nähe von Linz. Oft hat man mich gefragt, wie ich es denn hier aushielte — eben in Linz, in dieser nüchternen Stadt, unter den Industriewolken der VOEST. Ich wies die Frager ab: Ja, die Stadt ist vielleicht nüchterner als andere Städte in unserem Raum. Aber ist es nicht ehrlicher, in einer Stadt zu leben, die unsere Zeit widerspiegelt, als in überlebter Romantik? Und kann Nüchternheit nicht auch Imposantes hervorbringen?

Was ich nun hier im Foyer des Brucknerhauses vor mir sehe, ist freilich imposant genug: ein Breitleinwandpanorama, dem ich Schritt für Schritt durch die geschwungene Wandelhalle folgen kann, im Vordergrund die Donau, hinter blumenbesetztem, schmalem Park der mächtige Strom, von Wogen gemuschelt, daneben wieder blank glänzend, im raschen Lauf. Dahinter der Stadtteil Urfahr mit dem klotzigen Hochhaus Lentia 2000 und einer weiteren Kolonie hochgestellter Prismen, das neue Urfahr, das das niedrige, geduckte kleinförmige Dächergeschiebe des älteren Urfahr jetzt schon zu erdrücken scheint.

Dominiert wird das Bild im Osten vom weißen Riesenpylon der VOEST-Brücke, im Westen vom Bogen der Nibelungenbrücke, dazwischen stelzt auch noch die alte Eisenbahnbrücke über den Strom. Dahinter die schon eindunkelnde Silhouette der Mühlviertler Berge, eine mächtige, weit ausgreifende Kuppenlandschaft mit tief eingeschnittenen Talgräben, stellenweise dicht bebaut, stellenweise in Acker- und Wiesenflächen gebreitet, hauptsächlich aber bewaldet. Der Pöstlingberg gipfelt auf in der berühmten doppeltürmigen Wallfahrtskirche: sie sitzt der Kuppe wie ein Krönchen auf, jetzt bei untergehender Sonne als schwärzlicher Schnörkel in den rötlichen Himmel getuscht.

Hell angestrahlt die Altstadt links mit dem hochgelegenen Schloß über dem Donautal, das dort soeben aus der Enge in das breite Becken entlassen wird, in dem sich die Stadt entwickeln konnte. Da versammeln sich die Wahrzeichen des barocken Linz, die Türme des alten Domes, des Landhauses, der Minoritenkirche, mit stark taillierten Zwiebeln und luftigen Laternen, und durch das ganze weite Panorama wandern nun die sich rasch mehrenden Lichter des fließenden Verkehrs, sie zeichnen die Straßenzüge nach, Kreuzungen, Kurven, Diagramme des Lebens einer dynamischen Stadt.

Ich schaue und schaue und kann mich nicht sattsehen. Längst habe ich aufgehört, mein Zuspätkommen zu bedauern.

Wenn der Linzer Besuch bekommt, hat er mehrere Sehenswürdigkeiten anzubieten: die nahen Stifte Wilhering und Sankt Florian, die Basilika von Lorch-Enns mit ihren Ausgrabungen, die uralte kleine St.-Martins-Kirche auf dem Linzer Römerberg und anderes mehr. Doch vor allem wird er seinen Gast auf den Pöstlingberg fahren. Von dort wird er ihm das meiste zu bieten haben: den weitesten Rundblick, das eindrucksvollste Panorama.

Nehmen wir an, das Wetter ist gut, die Fernsicht klar. Vielleicht geht sogar südlicher Wind, Föhn, der die Luft reinigt, die Ferne heranrückt, die Nähe plastisch modelliert. Der Pöstlingberg ist eine der Hügelkuppen, die das Mühlviertel am weitesten an das Donautal heranschiebt. Hinter der Donaurinne breitet sich das weite ebene Trauntal aus, an ihm hängt die Welser Heide, Flachland also; um so weiter reicht der Blick, er reicht über die Molasse und Moränenschwellen des Alpenvorlands bis zum Alpenkamm und schweift diesen entlang, eine blaue, gezackte Bordüre mit weißen Spitzen: sie reicht vom äußersten Osten bis in den äußersten Südwesten, vom Schneeberg bei Wien bis zum Watzmann, und es gibt Tage, an denen sogar noch der Wilde Kaiser als fernste zarteste Kontur über den Horizont tritt. Über vier, fünf Bundesländer schweift hier der Blick, Oberösterreich, Niederösterreich, Salzburg, ein Eckchen Steiermark, ein Streifchen Tirol — über mehr als dreihundert Kilometer Erstreckung. Fast läßt sich schon die Rundung der Erde erahnen.

Im Vordergrund rechts: der Donaudurchbruch zwischen den Klippen und Granithängen des Mühlviertels, das hier noch einen äußersten Ausläufer südwärts schickt. Dort, wo der Strom aus schattiger Enge ins Helle und Weite tritt, dort tritt er zugleich ins Linzer Stadtgebiet ein mit seinen Brücken, Türmen, langen Uferpromenaden. In weiter Krümmung zieht die Donau nord-ostwärts: dort knickt sie in das Linzer Hafengebiet ein, dort erheben sich die imponierenden Stahlapparaturen der VOEST, über ihnen weiße und rötliche Wolken; in der Nacht durchzuckt sie feurige Helle.

In den Stadtkörper eingefügt immer wieder grüne Gehege, und in wogendes Grün weit hinausgestreut Vorstädte, Nachbarstädte, -markte, -dörfer: ein Ballungsraum, wie es seit neuestem heißt, er reicht von Wels bis Enns.

Emsig regt sich das Leben wie schon seit Jahrzehnten. Trotz vorhandener Sorgen, schwer lösbarer Probleme es ist eine Landschaft, die Optimismus vermittelt.

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