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Stalin-Welle gegen Juden

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Die Urteile in den Dissidentenprozessen scheinen in der Weltöffentlichkeit mehr Aufsehen erregt zu haben, als man im Kreml erwartet hatte. Die Frage nach dem Warum dieser plötzlichen Härte beschäftigt die Kommentatoren. Eine Antwort könnte lauten, daß die Wirkung im Westen sehr wohl einkalkuliert war, denn je höher dort die Erregung ihre Wellen schlug, desto höher mußte auch der Preis sein, den man für die Freilassung der Verurteilten, für ihren Austausch zu zahlen bereit wäre. Dieser Preis aber hieße Guil-laume. Der „Kanzlerspion“ aus Bonn müßte mit entsprechend prominenten Dissidenten „aufgewogen“ werden.

Eine andere Antwort, die der ersten keineswegs widerspricht, sondern eher die Hintergründe ausleuchtet, findet sich, wenn man untersucht, wer in diesen Wochen so hart abgeurteilt worden ist: Hier wurden nicht nur die lautesten Verfechter der Helsinki-Doktrin mundtot gemacht. Sie gehörten auch fast durchwegs jenen Völkern und Minderheiten in der Sowjetunion an, die seit den Zeiten des Zarismus dem Druck der russischen Mehrheit ausgesetzt sind - Juden, katholische Litauer, Ukrainer, Georgier stellen die Masse der Oppositionellen. Wenn sich nun der Griff der Behörden gegen sie richtet, korrespondiert diese Tatsache mit einem Phänomen, von dem Beobachter seit einigen Monaten übereinstimmend berichten: eine Welle von „Stalin-Renaissance“ überzieht zur Zeit die Sowjetunion, in der konservative Aspekte mit nationalrussischen und vor allem antisemitischen Hand in Hand gehen.

Von den fünf Helsinki-Gruppen, die in den letzten zwei Jahren in der Sowjetunion aufgetaucht sind, entstanden vier außerhalb der russischen Unionsrepublik. Armenien, Georgien, Litauen und die Ukraine sind ihre Standorte. Von den fast 50 prominenten Mitgliedern sind weniger als die Hälfte Russen. Gegen eine größere Anzahl bekannter jüdischer Wissenschaftler und Techniker wurden in letzter Zeit Gegenmaßnahmen durchgeführt. Der Sinologe Vitaly Rubin und Schtscharanskis Frau Natalja Stiglitz wurden zur Auswanderung gezwungen. Die Verurteilung des Tech-

nikers Wladimir Slepak wurde nun auch im Berufungsverfahren bestätigt.

Parallel zur Entwicklung der Helsinki-Gruppen aber taucht zwischen Bug und Ural immer häufiger Josef Stalin aus der Versenkung: 25 Jahre nach seinem Tod, 20 Jahre nach seiner Verketzerung durch Chruschtschow, bevölkert er Bücher und Zeitschriften. „Damals“, hört man raunen, habe es noch Disziplin gegeben, „damals“ sei die Versorgung besser gewesen - was zweifellos nicht stimmt - und schließlich habe Stalin ja den Krieg gewonnen. Wen wunderts, wenn im Zug dieser Renaissance auch Antisemitismus und russischer Nationalismus neue Belebung erfahren?

Im Verlag „Junge Garde“ (molodaja gvardija) in Moskau, der gerne betont nationale Werke auflegt, erschien im Vorjahr ein Buch von W. Begun „Einfall ohne Waffen“ (Wtorzenije bes oru-Sija). Der Autor ist als extremer Nationalist bekannt. Mit einer Fülle von „Dokumenten“ belegt er seine Thesen, wonach das jüdische Volk selbst die Schuld am Antisemitismus trage, da es

sich seit Moses Zeiten als das auserwählte Volk ansehe, dem die Herrschaft über die Welt versprochen worden wäre. Dann „entlarvt“ er die jüdische Durchsetzung des Staats- und Behördenapparats durch Zionisten nicht nur in der UdSSR, sondern auch in anderen Ostblockstaaten, wo sie in Schlüsselpositionen nur das eine Ziel verfolgt hätten, das sozialistische System zu zerstören.

Kurz vor Weihnachten 1977 kam es im „Haus der Schriftsteller“ in Moskau zu einem Zusammenstoß zwischen dem Chefkritiker des Gorki-Instituts, P. Palievskij, und dem Direktor des jüdischen Theaters, A. Efros, als der Referent die Avantgarde angriff und die Verschmelzung zwischen klassischer Tradition und Volkskultur in der Stalinzeit hervorhob. Das Traditionslose könne nicht positiv sein, es habe rein negativen Charakter, stellte Palievskij fest, und griff den jüdischen Dichter Eduard Bagritzkij heftig an, wogegen Efros ebenso heftig protestierte und Jewgenij Jewtusenko mit einem Appell an den sowjetischen In-

temationalismus die Wogen der Aufregung wieder glätten konnte.

Einzelfälle? Vielleicht - aber sie beginnen sich zu häufen. Andere Zeichen sind weniger eindeutig zu belegen: wenn etwa sogar Mitglieder der Akademie der Wissenschaften nicht nur gegen den Zionismus polemisieren, sondern auch gegen die „Schlitzäugigen“ und damit die Usbeken meinen, die in den Kolchosen rund um Moskau angesiedelt wurden, nachdem man die russischen Bauern zwangsweise zu Industriearbeitern gemacht hatte.

Oder wenn sich die Hinweise häufen, wie viele Juden führende Positionen in künstlerischen Bereichen, aber auch in der Partei innehaben - nicht zu verwundern: Breschnews Frau sei ja Jüdin!

Nicht einmal die „entartete Kunst“ bleibt traurige Reminiszenz verflossener Zeiten: gerade Künstlerkreise, die noch sehnsüchtig nach den Zeiten des sozialistischen Realismus mit seinen Kolossalschinken schielen, lehnen die Avantgarde der zwanziger Jahre und den Modernismus als „entartet“ und .jüdisch“ ab. Durch die Deplazierung von Körperteilen zerstöre diese Kunst das Bild Gottes im Menschen. Und wenn ausgerechnet jüdische Künstler wie Orabin und Liwenstein als erste in den letzten Monaten in den Westen ausreisen durften, ohne befürchten zu müssen, nicht wieder zurückkehren zu können, dann muß das natürlich den Haß der Daheimgebliebenen hervorrufen!

Ist de Antisemitismus so tief im russischen Volk verwurzelt, daß er auch durch sechzig Jahre internationalistische Propaganda, auch durch den Augenschein bei den Pflichtvisiten in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern nicht überwunden werden konnte? Oder schwemmt hier Unterschwelliges mit hoch, wenn irgendwo die Schleusen geöffnet werden? Ist auch dies eine Nebenwirkung von Helsinki - ein „backlash“ an der Basis? Wenn der Ruf nach Menschenrechten auch im durchorganisierten Sowjetsystem immer lauter erhoben wird -kommen in seinem Gefolge auch Stimmen und Stimmungen zum Vorschein, die als längst überwunden gehalten wurden? Und die im Korb III sicher nicht enthalten waren?

Die Partei- und Staatsführung steht dieser Entwicklung bisher anscheinend ratlos gegenüber. Sie selbst pflegt, wenn es ihr gerade opportum erscheint, den Zionismus als politische Strömung scharf zu attackieren - und sieht nun, wie dieser Antizionismus in einen immer offeneren Antisemitismus abgleitet. Eine Entwicklung, die ihr nicht unbedingt genehm sein kann.

Als sich vor mehr als zehn Jahren wiedererwachende christliche Gläubigkeit in der Sowjetunion organisatorisch in der Allrussischen christlichen sozialistischen Gesellschaft zusammenfand, schritten die Behörden ein und verboten ihre Tätigkeit. Wie weit sich diese neuerwachten nationalrussischen und antisemitischen Tendenzen weiter entwickeln können, wird nicht zuletzt davon abhängen, wie sich die Behörden ihnen gegenüber verhalten werden. Wenn im Westen, vor allem in der Bundesrepublik, Kommunisten „verfolgt“ werden, ist man in Moskau sofort mit Protesten bei der Hand...

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