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Standardwerk über Antisemitismus

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Wie befangen und passiv die Deutschen - und nicht nur sie - noch immer gegenüber dem Thema Antisemitismus reagieren, bewies kürzlich eine Ausstellung mit aktuellem Material in Worms. Gleichzeitig wurde die deutsche Ausgabe der „Geschichte des Antisemitismus” von Leon Poliakov (Paris) vorgestellt, der auch einen Vortrag hielt.

In der Ausstellung waren wichtige Dokumente zu sehen, die keines Kommentars bedürfen: Alphons Silbermanns beunruhigende Antisemitismus-Studie, die Titelseite einer rechtsradikalen Gazętte mit der Schlagzeile „6 Millionen vergaste Juden- die Lüge des Jahrhunderts”, daneben die eidesstattliche Erklärung des SS-Führers Wilhelm Höttl, Himmler habe die Zahl von sechs Milhonen Umgebrachten noch für zu niedrig gehalten. Papiere von abtransportierten Wormser Juden, deren Bestimmungsort „Theresienstadt” oder „unbekannt” lautete. Leon Poliakov beschränkte sich in seinem Vortrag auf persönliche Erinnerungen, sein Übersetzer, Dekan Dr. Rudolf Pfisterer, beschäftigte sich mit Erscheinungsformen des Judenhasses und lieferte traurige Beispiele dafür, daß viele Opfer des Faschismus gerettet worden wären, hätten weniger Vorurteile ge- \ genüber den Juden bestanden. Der faktenreiche Vortrag gipfelte in der Feststellung, daß der Angriff auf den Gott Israels letzten Endes auch zur Vernichtung des Christentums führen müßte, auch wenn das viele Christen in der Vergangenheit nicht bemerkt hätten. Hitlers zynische Bemerkung, das Gewissen sei eine jüdische Erfindung (Stalin bezeichnete es bekanntlich als „eine Art Hundekrankheit”), zeigt, wohin die Reise nach 1933 ging und daß es auch ohne Krieg nicht bei brennenden Synagogen ‘geblieben wäre.

Poliakovs in mehrere Sprachen übersetztes Werk - der erste Band der französischen Originalausgabe erschien bereits 1955 - wird nun mit erheblicher Verspätung auch in deutscher Sprache vorgestellt. Bezeichnenderweise nicht in einem der großen, marktbestimmenden Verlage, sondern in dem kleinen, auf Emigrationsliteratur spezialisierten Verlag Georg Heintz in Worms. Poliakov, der die deutsche Ausgabe überarbeitet hat, hofft, eine Generation zu erreichen, die dem Thema Antisemitismus ohne Schuldkomplex gegenübersteht. Der Titel des Werkes ist historisch wie Poliakov auch selber erklärt - nicht ganz korrekt, weil der Begriff Antisemitismus erst im 19. Jahrhundert aufkam und nicht auf frühere Epochen übertragen werden kann. Doch er entspricht der Konzeption des Verfassers, ein allgemein verständliches Werk vorzulegen, das keine historischen oder theologischen Kenntnisse voraussetzt und damit der Linie früherer Veröffentlichungen wie „Das Dritte Reich und seine Juden” folgt, die der Sorbonne-Professor veröffentlichte.

Der vorliegende schmale erste Band umfaßt die Epoche von der Antike bis zum frühen Mittelalter, also einen Zeitraum, der bislang noch nie zusammenfassend auf das Verhältnis von Christen und Juden hin untersucht worden ist. Im Römischen Reich lebten drei bis vier Millionen Juden, die nach dem freiwilligen oder auch erzwungenen Verlassen Judäas in voller Gleichberechtigung in der Diaspora existieren und alle Berufe ausüben konnten. Unterschiede im Gottesdienst und der Feier des Sabbats blieben bedeutungslos. Gegensätze zwischen Christen und Juden entstanden erst durch die theologische Diskussion, die Rivalität von Lehrmeinungen und eine Bevorzugung der Christen durch die öffentliche Gewalt. Im 5. und 6. Jahrhundert nach Christus erwiesen sich die Lebensbedingungen für die Juden als problematisch. Die erste erhaltene judenfeindliche Schrift stammt aus jener Zeit. Ludwig der Fromme erteilte den Juden Schutzbriefe, damit sie unbehelligt nach ihren Gesetzen leben konnten.

Aufschlußreich Poliakovs Nachweis, daß bis zum 11. Jahrhundert keine Aversion der Volksmassen gegenüber den Juden festzustellen ist. In der Champagne, Lothringen, am Rhein und in Prag entstanden blühende Gemeinden. Das änderte sich erst mit Beginn der Kreuzzüge. 1096 kam es in Speyer zum ersten Judenmord in Deutschland, dem weitere Ausschreitungen in Worms und Mainz folgten, obwohl die Bischöfe in allen drei Städten diese vermutlich spontanen Ausschreitungen zu verhindern suchten. Durch die Progromhetze von Predigermönchen kam es zu weiteren Plünderungen und Morden. Dabei spielte die Legende von angeblichen Ritualmorden und Hostienschändungen eine wichtige Rolle als Alibi. Poliakov weist nachdrücklich daraufhin, daß der jahrtausendealte Mythos vom Kindermord nicht nur zwischen Christen und Juden eine Rolle spielte: Griechen beschuldigten Juden, Römer die Christen, Christen die Gnostiker. Eine von Kaiser Friedrich II. 1236 angeordnete Untersuchung blieb zwar ergebnislos und bewies die Haltlosigkeit dieser Vorwürfe, änderte aber nichts an der Wirksamkeit der Legende, die im Volk bereits verwurzelt war.

Ein weiterer Band soll demnächst folgen.

Es sind schmale, aber inhaltsreiche Bände, infolge der kleinen Auflage nicht billig, aber ihr Geld wert. „Der arische Mythos” von Poliakov erschien übrigens kürzlich im Wiener Europa-Verlag.

GESCHICHTE DES ANTISEMITISMUS von Leon Poliakov, in 8 Bänden, 1. Band, Von der Antike bis zu den Kreuzzügen, Verlag Georg Heintz, Worms, 94 Seiten, öS 138,60.

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